Es ist bekannt, dass man hierzulande oft einen schlechteren WLAN-Empfang hat als in der Wüste von Namibia. Aber das ist fast überall temporär, etwa wie im kurdischen Norden Syriens, wo die Menschen ihre geflüchteten Verwandten in Europa mitten in der Nacht zum Skype-Treffen bitten, weil das Internet für die nächsten eineinhalb Stunden funktionieren könnte. Oder, wem der Vergleich zu heikel ist, wie bei der Stromversorgung in deutschen Städten kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Das Netz bricht ja gerne auch kurz nach dem Start des neuen Jahres zusammen, weil jeder jedem alles Gute wünschen möchte. Aber wenn es mitten im Jahr über vier Tage hinweg passiert, kann frau fast froh sein, zu den älteren Semestern zu gehören, die ja auch Zeiten VOR Handy, WLAN, Internet & Co. kannten und entsprechende Überlebensstrategien gelernt haben.
So selbstverständlich, ja, so notwendig wie das tägliche Brot, wirkt es plötzlich, wenn es fehlt. Ohne funktionierendes Mobilfunknetz mitten im prallen Leben und doch völlig abgeschnitten von der Welt – ist dieses Gefühl normal? Okay, so schlimm habe ich es nicht empfunden, schließlich kenne ich andere Zeiten. Aber ich konnte einige verzweifelte Mienen in jüngeren Gesichtern beobachten, die völlig irritiert und bar jeder Hoffnung auf ihre Handy-Displays starrten.
So geschehen vom 28. bis 31. Juli im Musikfestival-Kosmos, nur wenige Quadratkilometer unter freiem Himmel mitten auf dem Land. Mein Lieblings-Cousin und ich hatten uns vor der Pandemie Karten fürs Herzberg-Festival bei Fulda besorgt, wir wollten dort auch eine Freundin und deren Mann treffen und vier Tage Live-Musik, Woodstock-Feeling und ein bisschen Verrücktsein genießen. Der erste Schock kommt schon am Tag vor der Abfahrt: Die Freundin ist Corona positiv. Ihr Auto war schon voll geladen mit Camping-Gedöns, Blumengirlanden, farbenfrohen Fähnchen und verschiedenen Belustigungs-Beschleunigern, und jetzt das! „Ich werde das Auto bis nächstes Jahr nicht wieder ausladen!“ nimmt sie sich selbst feierlich das Versprechen auf einer Social Media-Plattform ab. Das bereits geplante Date auf einen Kaffee mit einem Bandmitglied von „The Magic Mumble Jumble“ will sie dagegen nur bis zum nächsten Festival drei Wochen später verschieben.
Ein paar Kilometer vor der Einfahrt aufs Festivalgelände bekommt Mama mein obligatorisches „Bin heil angekommen, liebe Grüße!“, danach sind wir erstmal mit Zeltaufbau und Dixie-Klo-Begutachtung beschäftigt. Anderthalb Kilometer vom Zelt bis zur Freak-Area, und los geht‘s mit Snapshots: Eine bunt gemusterte Ansammlung von Menschen zwischen eins und mindestens 91 (!) bewegt sich über die Wiesen, viele mit Dreadlocks und angezogen mit Tattoos, eine Unmenge junger Männer mit Haremshosen, alt und speckig oder frisch erstanden in einer der vielen Alternativ-Bedarfshops rund um die Konzertplätze. Das Wetter ist genau richtig – trocken und nicht zu heiß, nicht zu kühl – und schon bald erspäht der Cousin den „Goldmann“, der offenbar auf keinem Herzberg-Festival fehlt.
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Nach etwa einer Stunde und im Neubesitz einer rotgestreiften Hippie-Hose sortiere ich meine erste Foto-Ausbeute und bin bereit zum „Abschuss“ über zwei Social-Media-Kanäle. Fehlanzeige. Ich hatte ja einigen Leuten versprochen, Fotos zu schicken. Shit. Dann eben später. Mein Cousin, ein erfahrener Festival-Besucher, bietet mir an, mich später auf dem Zeltplatz mit seinem Hotspot zu unterstützen. „Das kann schon mal passieren bei so vielen Leuten“, erklärt er schulterzuckend.
Nach dem ersten Konzert gibt es schon mehr Foto-Ausbeute. Zweiter Versuch. Neben mir flucht der Cousin, der, wie schon angedeutet, mit einem wesentlich besseren Mobilfunkpaket ausgestattet ist. Ein kurzbehoster Mittsiebziger mit undefinierbarer Hautpatina und biberartigen Zähnen mümmelt angesichts meines verwirrten Gesichtsausdrucks: „Kannze eh vergessen. BisshierimNirwana!Jeniesset!“ Ok, Nirwana bekomme ich irgendwie nicht hin, aber immerhin kann ich die Bands bis kurz vor Mitternacht genießen. Letzter Versuch im Zelt gegen halb eins. Das Display scheint wie eingefroren seit heute Mittag.
Morgens um Viertel nach fünf nach der ersten Dixie-Runde schnell der nächste Versuch. Vielleicht haben ja jetzt nicht gerade 20.000 andere dieselbe Idee. Juhuu, es klappt. In Whats App fünfzehn Anfragenvariationen von „Wo bleiben die Bilder?“ und schwupp – Netz weg!
Der Lieblingscousin mit Schlafplatz im Auto erklärt mir später beim Frühstück, dass er gegen halb vier Glück gehabt und seine diversen Freund*innen versorgt habe, dann aber auch bei ihm wieder alles abgerissen sei. Gegen Mittag erhalte ich eine SMS von ihm, auf die ich seit gestern Nachmittag warte: „Ich bin gegen acht am Couscous-Stand!“ Ich war um kurz vor acht zufällig dort vorbeigelaufen und hatte ihn getroffen. Mit anderen Gesprächsthemen im Gepäck hatten wir über die Nachricht nicht mehr gesprochen.
copyright @ Thomas Rosleff-Sörensen
Ich schicke meiner Schwester mit der Gelassenheit einer Galapagos-Schildkröte eine SMS und bitte sie, Mama wegen der Netzprobleme Bescheid zu geben. Es ist Freitag, 14:35 Uhr. Am Samstagabend um 22:42 vibriert das Handy mit der Nachricht: „Klar, ich geb Bescheid. Passt auf, heute Nacht solls bei euch Gewitter geben!“ Stimmt, dabei habe ich bemerkt, dass das Zelt undicht ist…
Es gibt sie, diese Momente, in denen ich richtig sauer bin, dass ich keine Neuigkeiten abrufen oder Fotos verschicken kann. Nicht mal normales Telefonieren übers Handy ist noch möglich. In Notfällen wäre hier für alles gesorgt, zeit- und ortsnah, das beruhigt. Es ist alles so wie beim letzten Hippie-Sommer mit meinem ersten Freund und unseren Kumpels auf der Waldwiese, nur ohne Bühne, dafür aber mit Transistorradio und Dauerschleife BFBS oder „Diskoteck in WeeDeeÄRR“. Das war im letzten Jahrhundert.
Trotzdem fehlt mir das Scrollen, die Flut der bunten Bilder, die Neuigkeiten aus dem Rest der Welt. Und mir fehlen auch Nachrichten von ganz bestimmten Menschen. Mir fehlt genauso die Möglichkeit, mich selbst einzubringen mit Ideen, Beschreibungen, Antworten auf Fragen. Womit habe ich früher Zeit überbrückt, in der ich heute wie fremdgesteuert das Handy einschalte und nach neuem Input und Austausch suche?
Essen geht Gott sei Dank analog: Köstlicher Zufall war das Wiedersehen mit David und Pattama Gadens Thai Imbiss aus Osnabrück – grandios lecker!
Ich versuche, mich zurück zu erinnern. Ich habe dagesessen – oder gestanden oder gelegen, oder bin gegangen – und habe beobachtet und nachgedacht. Geräuschen gelauscht, die Umgebung angeschaut, eingeordnet, gefühlt. Ich habe mehr gelesen. Und mehr geschrieben! Mich geerdet. So selbstverständlich wie einst Astrid Lindgren, die ihre Pippi Langstrumpf sagen lässt: „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und nichts zu tun!“
Ich gehe zum Zweitausendeins-Stand und kaufe mir einen Skandal-Roman. Weil es bequemer ist als auf der Wiese gehe ich damit ins Zelt mit den vielen alten Sofas – der Cousin und ich nennen es „Kiffer-Lounge“, weil die Luft geschwängert ist von geräuchertem Gras. Die Hektik auf den Handy-Apps ist hier überhaupt kein Thema.
Ich lege mich auf eine Couch und bin innerhalb von ein paar Minuten in meinem Roman. Der spielt auf einer einsamen Insel vor der Küste Kanadas. Eine Frau macht dort die außergewöhnliche Bekanntschaft mit einem Schwarzbären.
Ein netter Typ mit blonden Locken tippt mir auf die Schulter, lächelt süß und bietet mir `nen Keks an. Da kann ich nicht Nein sagen. Wow, ist das geil hier!
The „girl“ with kaleidoscope eyes…
Wer nähere Beschreibungen zum Festival vermisst, dem kann geholfen werden:
„Hast du deine Ohrstöpsel dabei? Ich weiß ja nicht, wie laut du das Heavy Metal-Konzert verträgst.“ Mein Großcousin und liebster Mitbewohner, Pseudonym Christian, guckt süffisant lächelnd von der Fahrerseite herüber und taxiert meine Gesichtsmuskeln. „Ha! Fahren wir nach Wacken?“ Natürlich glaube ich ihm kein Wort. Wir fahren auf der A 565 in südwestlicher Richtung.
Nicht erst seit Putins fatalem „Einfall“ am 24. Februar hatte ich ein seelisches Tief, das sich durch eine mittelschwere persönliche Krise noch verschlimmert hatte. Am schlimmsten war die Aussicht auf den nächsten runden Geburtstag gewesen. Als Konsequenz trug mir der Lieblingscousin auf, an meinem Geburtstag frei zu nehmen und auf alles gefasst zu sein
6 Wochen später saß ich also gefasst auf dem Beifahrersitz seines Autos, Köfferchen und diverse Kartons im Fond, und rätselte über das Ziel der Reise.
Erste Etappe: Einkehr bei einer alten Schulfreundin, nennen wir sie Swaantje, die mittlerweile auch mit Christian befreundet ist. Sie läuft uns mit prickelnd vollen Sektgläsern entgegen. „Alles noch alkoholfrei,“ zwitschert sie fröhlich, „später auf dem Schiff können wir richtig loslegen!“ Und schiebt nach: „Warst du schon mal auf den Malediven? Mit dem Traumschiff? Sascha Hehn kommt auch!“ Ich muss schlucken. Kreuzfahrten sind nun echt nicht mein Ding. Und Sascha Hehn hab ich vor 40 Jahren sexy gefunden. Mittlerweile hab ich ein anderes Beuteschema. Swaantje lacht schallend: „Ätsch, ich wusste, dass du das nicht willst. Wir fliegen nach Wien, Schätzelein,“ und Christian ergänzt: „Da haben wir heute Nachmittag nämlich eine Führung über den Zentralfriedhof gebucht. Wir dachten, das kommt unserem Alter am nächsten…“
Endlich zwei Menschen, die mit mir fühlen. Auf dem Weg zum Flughafen – wir fahren jetzt in Swaantjes Auto mit Hündchen Lulu auf dem Rücksitz – fällt uns ein, dass wir ja noch an diesem Wochenende einen Trapez-Workshop beim Circus Roncalli hätten buchen können… Und dass wir im Herbst noch die Möglichkeit hätten, als Erntehelfer bei der Lakritzernte einzusteigen. „Wenn wir Pech haben, haben wir dann aber Monsun, wenn wir ankommen,“ gibt Christian zu bedenken.
Swaantje fährt an der Ausfahrt zum Flughafen vorbei. Lulu furzt. Da ich vorne sitzen darf, hängt Christian, der neben ihr sitzt, die Nase aus dem Fenster. Für den heutigen Nachmittag ist ein Unwetter angesagt, das wir jetzt elegant umfahren. Es geht über die nächste Landesgrenze. Wer Swaantje und ihre Familie kennt, weiß, dass nur hier der Regen Dröpje voor Dröpje Kwaliteit hat. Ich kann mein Glück kaum fassen, dass die beiden mir tatsächlich diese Reise zum Geschenk machen. Keine Erwartung, erst recht kein Wunsch steckt dahinter, meinen Geburtstag hätte ich am liebsten vergessen und mich irgendwo hinter dem Ofen in der Asche meiner Drachen und Dämonen versteckt.
Mein Handy bleibt aus während die Landschaft an uns vorbeifliegt. Es ist 14:00 Uhr, als wir hinterm Deich von Callantsoog die Flasche mit dem „echten“ Sekt aufmachen und über die Holztreppe zum Strand laufen. Wir finden eine Schaukel und wechseln uns mit kindlichem Eifer ab. Es beginnt zu regnen, der Wind frischt auf. Jetzt ist es Zeit, das Chalet zu beziehen, das Swaantjes Schwester uns überlassen hat. Ich werde sofort ins „Geburtstagszimmer“ – das mit dem bequemsten Bett – geschickt, damit ich nicht vergesse, warum ich hier bin.
Als der Wind sich legt, kaufen wir ein, drehen eine Runde durchs Örtchen und entdecken die Ankündigung für das Drachenfest am Strand, das ab morgen starten soll. Der Abend klingt mit anbetungswürdigen Häppchen und edlen Gesöffen aus. Mit der neuen Zahl vor der Null habe ich die Hälfte meines Lebens definitiv hinter mir und bin niemandem mehr Rechenschaft schuldig.
Und auch als der Geburtstag vorbei ist, darf ich keinen Finger rühren. Wir gehen zum Drachenfest, bei dem es fantastische Tierwesen am Himmel zu sehen gibt, vor dem satten Blau fast als wäre man unter der Meeresoberfläche. Es ist lausig kalt, deshalb laufen wir kilometerweit, gönnen uns (endlich auf meine Kosten) ein tolles Abendessen im angesagtesten Strandpavillon und sitzen später bei Kerzenlicht bis in die Nacht und verraten uns gegenseitig all die Träume, die wir noch haben. Die wichtigsten, Sonnenschein und Wärme, erfüllen sich bereits am nächsten Tag. Wir haben nur noch diesen einen, dehnen ihn aber so lange aus, wie es geht, und genießen unser Glück.
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Auf dem Rückweg schaue ich mir noch einmal an, wer an meinem Geburtstag an mich gedacht hat. Auf dem Handy sind in verschiedenen Apps mehr als 50 Nachrichten, beinahe alle sind Gratulationen. Das Grauen vor diesem Geburtstag ist verflogen wie der Tag selbst. Und die beiden Tage danach.
Dennoch war dies kein Ergebnis der eilenden Zeit. Hier hat sich einmal mehr der größte Schatz gezeigt, der ein Leben prägen kann: tief empfundene, lang anhaltende Freundschaft. Gepaart mit Humor, Lebensfreude und Dankbarkeit ist ein solches Band kaum zu zerreissen. Nur mit Freunden, die einen ein Leben lang kennen und auch nach Jahren der Funkstille die skurrilsten Absurditäten verzeihen und einfach weitermachen, kann man Drachen zähmen.
Es sind dies nicht nur Christian und Swaantje. Sie stehen stellvertretend für einige andere, mit denen ich teils schon im Kindergarten Dreck gegessen habe. Ihr wisst, dass ihr gemeint seid. Ihr habt alle an meinem Geburtstag an mich gedacht, und das war – ebenso wie die Liebe meiner Familie – der Todesstoß für meine Dämonen.
Einmal im Jahr dürfen wir richtig Gas geben und so tun, als ginge ohne uns rein gar nichts.
Liebe Männer, wir wissen, dass viele von euch schon verstanden haben, dass es tatsächlich so ist. Ohne uns geht wirklich rein gar nichts. Die Besten unter euch haben noch nicht einmal ein Problem damit, uns einen Chefsessel oder ein adäquates Gehalt zu gönnen. Wir gönnen euch im Gegenzug Familienzeit, 24/7 mit monotonen Abläufen, linearen Tagesplänen voller Quer- und Schrägbalken, zärtliche Liebe und große Sorgen in Reinform. Nur ihr könnt ermessen, was jahrhundertelang für unsere naturgemäße Lebensaufgabe gehalten wurde, und was der Preis war, den wir dafür bezahlt haben. Natürlich haben es einige unter uns wirklich für ihre wahre Lebensaufgabe gehalten und waren damit ausnehmend glücklich. Den vermutlich meisten Frauen war diese Aufgabe aber genug für eine begrenzte Zeit, denn sie hatten noch andere Talente in sich entdeckt, die heraus wollten. Mittlerweile gelten sie nicht mehr als Rabenmütter, und diejenigen, die sich in der Fürsorge austoben, auch nicht mehr als Dummchen.
Dass wir noch meilenweit vom Ideal entfernt sind, in dem sich Männer und Frauen ALLE Aufgaben teilen, je nach Vorliebe und Fasson, ist einer der Gründe für den Weltfrauentag. Damit kann ich aber leider nicht feststellen, dass die bloße Existenz des Frauentages dazu führt, dass bestimmte Sorten von Männern darüber nachdenken, warum es ihn gibt. Geschweige denn, dass es ihn gar nicht geben dürfte, weil Männer und Frauen überall gleiche Rechte und Pflichten sowie gleichwertiges Ansehen haben.
Seit einigen Jahren bedenkt mich ein ehemaliger Kollege jedes Jahr am Weltfrauentag mit herzlichsten Glückwünschen zu ebenselbigem. Er ist Schwarzafrikaner und hat jahrzehntelang in der früheren „DDR“ gelebt und gearbeitet. Daher ist ihm dieser Feiertag heilig. Die meisten Blumen habe ich an diesem Tag von anderen Frauen bekommen, oder von Kursteilnehmern aus den ehemaligen Ostblockländern. Den Feiertag verdanken wir dem Kommunismus, der ohne die Arbeit der Frauen wohl noch früher bankrott gegangen wäre.
Dass er hier angekommen ist, hat – wenn nicht gerade eine Pandemie herrscht – zumindest den Vorteil, dass man sich für diesen Tag oder Abend eine Kulturveranstaltung in der Nähe gönnen kann, bei der Frauen sich im eigenen Glanze sonnen können. Mir persönlich haben die Satire-Abende am besten gefallen, das waren die einzigen Male, bei denen ich über all das lachen konnte, über das ich mich an jedem anderen Tag des Jahres eher geärgert hätte. Dass die Chefs keinen Kaffee mehr kriegen, weil die Assistentin corona-positiv im Home-Office arbeitet, oder dass die neue Standortleiterin weniger Gehalt bekommt als ihr männlicher Vorgänger, weil sie ja sowieso schwanger wird und dann das viele Geld nicht mehr wert ist. Aber niemand ahnt, dass die Standortleiterin in eingetragener Lebenspartnerschaft mit ihrer Jugendfreundin und fürstlich von deren Salär als Chefin einer Kondomfabrik lebt.
In meinem Umfeld sehe ich, dass die klassischen, von Frauen besetzten Arbeitsstellen, noch immer eklatant unterbezahlt sind und die Arbeitgeber ohne diese „Preispolitik“ in unserem Wirtschaftssystem auch gar nicht überleben würden. Viele Chefsessel werden noch von Männern besetzt, aber ich stelle fest, dass die taffen Frauen immer mehr Führungsstellen besetzen. Nun meine ich zu beobachten, dass diese zunehmende, fast unmerkliche Umstrukturierung auch dazu führt, dass die Stutenbissigkeit abnimmt. Die „führenden“ Frauen müssen nicht mehr um rare Stellen kämpfen, sondern zollen sich gegenseitig Anerkennung, helfen sich gegenseitig hoch.
In meiner eigenen Familiengeschichte waren tatsächlich immer die Frauen diejenigen, die den Laden maßgeblich gestemmt haben. Das lag in der Großmüttergeneration einfach daran, dass der Krieg ihnen die Männer geraubt hatte. Meine Eltern haben gemeinsam ein kleines Firmenimperium aufgebaut, an dem meine Mutter den maßgeblichen Anteil hatte. Aber sie hat ihren Töchtern beigebracht, dass ein Mann immer hören muss, dass ER der Chef ist, und dass nur ER die weiterführenden Ideen hatte. So kann das mit der Gleichberechtigung natürlich nichts werden…
In meiner Generation habe ich junge Männer erlebt, die den jungen Frauen vorwarfen, sich selbst verwirklichen zu wollen, während sie selbst sich angeblich in ungeliebten Berufen den Buckel krumm machen mussten. Niemand hat diesen Jungs verboten, sich selbst zu verwirklichen und Berufe zu ergreifen, die ihnen Spaß machen. Und niemand hat sie gezwungen, zu heiraten und Familien zu gründen. Aber sobald Kinder da waren, legten die Frauen ihre so böse geschmähte Selbstverwirklichung mehr oder weniger auf Eis. Recht machen konnte es schließlich keiner niemandem. Heute stellt sich diese Frage in der Regel nicht mehr: Beide MÜSSEN arbeiten, sonst reicht das Geld nicht. Glücklich die Frauen, deren Männer sich nicht zu schade sind, die Kinder ins Bett zu bringen und anschließend das Klo zu putzen, damit sie mal eine Extrarunde schlafen können.
Allen Leser*innen möchte ich zum Schluss dieses unvollendet zu nennenden Artikels aber noch ein Bonmot der unvergessenen Heidi Kabel ans Herz legen. Hierfür vielen Dank an #„holllyygolightlyy“ und # „tsiebenstern“ auf Instagram. Wer mir ein entsprechendes Beispiel liefern kann, möge sich bitte zu Wort melden:
Die Gleichberechtigung ist erst dann erreicht, wenn auch einmal eine total unfähige Frau in eine verantwortliche Position aufgerückt ist!
Schwere Themen in diesem Monat. Wie fast immer Anfang des Jahres, kurz nach dem Neujahrsjubel. Meine Mutter flutet ihre Töchter mit Todesnachrichten aus ihrem Freundeskreis, Ende des Monats ist leider auch eine Verwandte dabei, die kaum älter ist als ich. Irgendwann ist es zu viel, ich schimpfe in den Familienchat: „Aufhören! Es reicht! Es ist Samstagabend und wir gucken jetzt die Waltons oder Raumschiff Enterprise oder Daktari!“ Meine Schwester pfeffert nach: “Percy Stewart!“ Ok, das waren alles diskrete Hinweise darauf, dass unsere Jugendjahre schon etwas zurückliegen. Ich schaue mir die genannten Posts nochmal an und denke, dass es schon fast zum Automatismus geworden ist, sich mit solchen Film- und Seriengeschichten von manchmal schwer erträglicher Wirklichkeit abzulenken. Escapismus. Früher wurde gelesen, wurden Schallplatten oder Hörfunkbeiträge gehört. Das Fernsehen ist ein Vergrößerungsspiegel dieses Schutzmechanismus. Natürlich gibt es weit mehr Möglichkeiten, darum geht es hier aber nicht.
Das, wovon ich nun schreibe, ist ein psychologisch und auch gesellschaftlich-philosophisch extrem weites Feld. 2022 jährt sich das Datum der Wannsee-Konferenz, auf der bürokratisch die Vernichtung von elf Millionen europäischen Juden geplant wurde, zum 80. Mal. Vor 77 Jahren wurde das größte Vernichtungslager, Auschwitz, von der Roten Armee befreit. Überall, natürlich auch im Fernsehen, wird daran erinnert. „Das gucke ich mir nicht mehr an,“ höre ich mehr als einmal. Lieber ein fiktiver Krimi, am besten „schlachtfrisch“ aus Schweden.
Beim Reinzappen in die Mediathek bleibe ich an einer Empfehlung hängen, die Erinnerungen an meinen England-Urlaub vor drei Jahren weckt: „Die Kinder von Windermere“. Ich lese, dass es um traumatisierte jüdische Kinder geht, die 1945 aus verschiedenen Vernichtungslagern nach England gebracht und dort wieder in ein weitgehend normales Leben integriert wurden. Diese Kinder hatten, wenn überhaupt, nur ein paar Jahre lang eine normale Kindheit. Was sie danach durchmachen mussten, ist unvorstellbar. Obwohl ich um all das weiß, darüber schon sehr viel von Zeitzeugen direkt erfahren und über diese Schicksale oft geweint habe, greift es mich wieder an. Ich kann es zulassen. Und ich sehe, wie auch diese märchenhaft liebliche Landschaft in Cumbria dazu beiträgt, den Kindern wieder etwas Vertrauen ins Leben zu schenken. Die authentischen Lebensgeschichten zeigten, dass es praktisch allen von ihnen gelang, dieses Vertrauen weiter auszubauen und Erfolg in allen Bereichen zu haben. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Wer über Forschungsarbeiten gelesen hat, die sich mit den Auswirkungen des zweiten Weltkrieges auf die Kinder- und Enkelgenerationen der beteiligten Länder beschäftigen, weiß, dass diese Traumata einen langen Arm haben. Auch meine Generation und die meiner Kinder hat noch etwas davon, auch wenn wir (weit) nach dem Krieg geboren wurden. Sabine Bode hat beschrieben, dass neben den Kriegstraumata, die Zivilisten aller beteiligten Staaten erlitten, bei den Deutschen die Schuld eine Komponente ist, die spät und schleppend aufgearbeitet wurde und wird. Die Folgen für die Nazi-Opfer – nicht nur, aber in der Mehrzahl Juden – haben wieder andere Ausprägungen. Ihnen allen gemeinsam sind die unauslöschlichen Spuren, die das Grauen in ihnen hinterlassen hat. Und, wie zunehmend klar wird, auch in ihren Nachfahren. Wie wir heute wissen, hat ein Großteil aller Traumatisierten durch Verdrängung versucht, dem Leben wieder eine Chance zu geben. Escapismus ist also ein zutiefst menschlicher Mechanismus, um die Seele zu schützen. Und er kann jahrzehntelang helfen, in einigen Fällen sogar ein Leben lang.
Vor vielen Jahren hatte ich das Glück, den wunderbaren Wladislaw Szpilman (ja, den „echten“ Pianisten aus Spielbergs Film) kennenzulernen. Zusammen mit seinem Sohn besuchte er Georgsmarienhütte, wo ich als Journalistin einer Lesung aus „Das wunderbare Überleben“ lauschen und beiden auch Fragen stellen durfte. Er bekannte, seine Geschichte vor seinem Sohn verschwiegen zu haben. Als dieser einige Notizen seines Vaters fand und ihn bat, darüber zu sprechen, wies der ihn zunächst ab. Der Sohn verstand, dass er den Vater aus Respekt nicht bedrängen durfte. Später aber brach Wladislaw Szpilman sein Schweigen und sagte, dass erst das Hervorholen dieser Geschichte ihn innerlich befreit habe und er verzeihen könne. Mir wurde während der Lesung schlagartig klar, dass mein Großvater vermutlich zeitweise in unmittelbarer Nähe zu ihm „gekämpft“ hatte. Als Wehrmachtssoldat war er an der Niederschlagung des Ghetto-Aufstandes von Warschau beteiligt, während Szpilman sich in unmittelbarer Nähe des Ghettos in einer Wohnung versteckt hielt.
Gut vorstellbar, welcher Gefühlsstrudel mich an diesem Abend und danach beschäftigte. Mein Vater, Sohn eines Täters und selbst Opfer seines cholerischen Vaters, bekam das handsignierte Buch Szpilmans zu Weihnachten. Es sorgte dafür, dass in unserer Familie endlich Dinge angesprochen und aufgearbeitet wurden, die jahrzehntelang Tabuthemen gewesen waren. Dafür haben wir, salopp gesagt, bereitwillig auch Heile-Welt-Serien verpasst.
Während wir hier in der westlichen Hemisphäre alte Wunden lecken und uns gegenseitig beschwören, jeglichen Anfängen unseliger Entwicklungen zu wehren – was, wie wir leider beobachten müssen, zunehmend schwerer wird – toben sich im Nahen Osten und in Afghanistan Unrechtsregimes aus, die viel näher sind als der Blick auf die Weltkarte vermuten lässt. Das hat nicht nur mit der Flüchtlingswelle zu tun.
Kaum, dass wir in der nunmehr fast vierten Generation das Entsetzen der Nazi-Zeit verarbeiten, sehen wir mit an, wie die Kinder und Jugendlichen in Syrien – vor allem in den kurdischen Gebieten – und in Afghanistan, aber auch im Jemen, in einer verheerenden Spirale von Gewalt, Hunger und Unterdrückung erdrosselt werden. Und natürlich nicht nur da. Als Deutschlehrerin für Flüchtlinge, aber auch privat als Freundin, breiten sich vor mir Geschichten aus, die denen meiner Großmütter und ihrer Kinder ähneln. Sie waren nach Jahrzehnten in der Lage, von ihren Erfahrungen, Entbehrungen, furchtbaren Ängsten zu erzählen. Das, was sie erlebt haben, kam nicht an das heran, was ich aus anderen Erfahrungsberichten weiß, aber es war trotzdem furchtbar. Erst im Nachhinein wird vielen klar, was sie da durchgestanden und überlebt haben. Dass es daneben noch so viel Verleugnung, Hass und Hetze gibt gegenüber Menschen, die das Gleiche durchmachen wie die (Groß-) Elterngenerationen der Hetzer und Verleugner, mögen Psychologen erklären. Es ist nicht Escapismus. Auch nicht irrationale Angst. Für mich ist es wahre, unverfälschte Dummheit.
Ob die tatsächlich durch Liebe geheilt werden kann? Wer immer in der Lage ist, hier eine nachvollziehbare Erklärung zu geben, ist hiermit eingeladen.
Gut durchs Jahr zu kommen, ist das ein Ziel? Klar, und angesichts der Themen, die wir in diesem Jahr unfreiwillig annehmen mussten – Arbeit unter Corona-Bedingungen, Umweltkatastrophen, neuer Abgrund in Afghanistan, die Neun nach der Fünf – hatte der Weg durchaus Seiten, die nicht ganz so liebenswert waren. Aber frischwärts losgestiefelt ist halb geschafft! Hier also mein Jahr 2021.
Neue Konzepte – Hut auf für neue Berufssprachkurse
Es ist Winter.
Corona hat uns viele Striche durch noch mehr Rechnungen gemacht. Die Bundesbehörden haben Maßnahmen eingestampft, die uns getragen haben, aber diese Kolosse können sich auch in neue Richtungen bewegen. Anruf im Morgengrauen, der Chef klingt noch verschlafen: Das Dingens-Konzept läuft aus, aber wir dürfen ein anderes Konzept entwerfen, weil wir Werkstätten haben. Wir trommeln ein paar Leute zusammen und besprechen, wie wir es machen. Und, ähm, du kriegst den Hut auf. Na super, die Leute sagen, ich hätte ein „Hutgesicht“. Aber das hier?! Mal sehen.
Jetzt mal Klartext: Mein Arbeitgeber ist auf vielen Schienen der Weiterbildung unterwegs, auch im Bereich „Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache“. Bisher haben wir alle Farben und Formen von Deutschkursen angeboten, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Rücken. Da viele Leute keine Lust haben auf Virtuelles Klassenzimmer (oder eher: W-LAN-Abrisse…), sollen wir die Zeit nutzen und neue Möglichkeiten für Migranten entwerfen, die an allen Sprachprüfungen gescheitert sind und auch keine weitere Prüfung mehr bezahlt bekommen. Sie sollen wenigstens so viel Deutsch lernen, dass sie sich in einer Helfertätigkeit zurechtfinden. Unser Plus: Wir haben Lehrwerkstätten und Fachanleiter. Und Deutschlehrer, klar. Auch klar ist aber, dass solche Kurse nicht virtuell bzw. online stattfinden können. Wir müssen uns also sputen, ein Präsenz-Konzept hinzubekommen, das die Kurse direkt nach dem Lockdown füllt. Sechs Wochen haben wir Zeit. Meine Profis sind gestandene Experten aus Küche und Backstube, Holz- und Metallwerkstatt, Lager, Pflege und Reinigung. Einsames Durchwühlen durch andere BAMF-Konzepte und -Vorgaben, ältere Maßnahmenpapiere, den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für die Einschätzung von Sprachkenntnissen, aber auch lebhafter Austausch mit den Profis über Learning by Doing im Maximum der gewährten Zeit. Ergebnis: Innerhalb von 16 Wochen Kursdauer sollen Migranten mit geringen Sprachkenntnissen und ausgeschöpftem Prüfungskontingent in einem neuartigen Berufssprachkurs lernen, Anweisungen zu verstehen und umzusetzen. Aber zack zack! Immerhin dürfen sie sich aussuchen, ob sie das in einer Großküche tun wollen, in einem Lager, in einer Werkstatt oder im Plastik-Altenheim. Eine Abschlussprüfung soll es nicht geben, aber ein Zertifikat, auf dem in freundlichen Worten steht, was der/die Teilnehmende kann. Was er nicht kann, steht dann im Kleingedruckten auf der Rückseite. Soweit die hehre Absicht und grobe Theorie.
Die Behörde tut, was sie immer tut: Sie zeigt uns, wer der Herr im Haus ist. Also darf ich brav eine klitzekleine Änderung vornehmen, die uns am Ende sogar noch eine Extra-Prämie einfährt. Ja, ihr ahnt es: Das war auch für meine Profis und mich eine Art von Arbeits-Beschaffungs-Maßnahme im Corona-Lockdown! Jetzt wollen wir wieder an der anderen Seite des Tisches sitzen und Menschen Hoffnung geben, die sie ebenfalls brauchen. Die Behörden werden mit Informations-Flyern geflutet und wir stehen in den Startlöchern.
Wer am Glimmstängel saugt, will in Wahrheit Input von Mama. Oder sonst wem, den man für existentiell wichtig hält. Okay, wer widersprechen will, darf mich gern belehren, ich bin kein Psychologe. 23 Jahre lang war ich nichtrauchende Mama, dann waren Mann und Kinder aus dem Haus und das vermeintlich existentiell wichtige Objekt meiner Begierde wollte auch nicht so, wie ich gern wollte. Recht hatte er, wie ich heute weiß, aber nicht, weil wir einander nicht verdient hätten. Sondern weil… ach, das führt ins Unendliche. Schon vor Jahresanbruch war dieser Lieblingsmensch raus aus meinem Leben, es ging mir besser. Nur die Zigaretten waren noch da, und fast täglich gab es neue. Und mit ihnen Kurzatmigkeit, Halskratzen und das dumpfe Gefühl, mit einem Schlaganfall zu enden wie ein Großteil der Altvorderen. Da hüpfte mir auf Instagram ein Raucher-Entwöhnungsprogramm zwischen die Augen, erstaunlich günstig und sowas von easy. Spontaner Einstieg, jeden Tag ein kleiner, freundlicher Denkzettel, und nach zweieinhalb Wochen die Ankündigung, dass ich morgen meine letzte Zigarette rauche. Jippiiie, na endlich. Schnell noch eine Schachtel gekauft, mit der Chefin am nächsten Tag gefühlt zehn Raucherpausen gemacht, und abends dann das große Abschiedsritual. Warmherziger Beistand vom Lieblingscousin, unterstützt von einigen hundert trällernden Piepmätzen. Ach, ich kann euch keinen Wunsch abschlagen! Saubere Luft sollt ihr haben. Und ich natürlich auch. Oh Wunder, es hat geklappt. Ohne viel Federlesens, einfach so. Wie damals, als ich bei aufkommenden Schwangerschaften zack die Stängel liegen ließ, weil ich mir vorstellte, wie mein Minime das Japsen anfängt. Das dicke Ende stellte sich rasch ein. Meine Hausärztin, Raucherin aus Leidenschaft und 30 Kilo zu schwer – eine tolle Frau! – lachte mit mir gemeinsam über die störrischen Kilos, hob aber sicherheitshalber den Zeigefinger. Dann tauchte eine alte Freundin bei mir auf, die mir großzügig ihre 44er Klamotten anpries. Sie war wieder auf 38. Es folgten Abnehmprogramm-Checks und hunderttausend „Ich müsste jetzt…“
Gesiegt hat die neue Winterjacke, die viel zu eng und viel zu teuer war, um sie weiter zu verschenken. Mit viel Eiweiß und noch mehr Bewegung kam die Abwärtsspirale also langsam in Gang. Meine Freundin, ihres Zeichens Gourmet-Köchin für den besonderen Feinschmecker-Abend in den eigenen vier Wänden, zauberte außerdem Fünf-Gänge-Menüs aus der Pfanne, nach denen keine (r ) von uns mehr Feindschaft mit der Waage hatte.
Neun Minuskilos später stapfe ich jetzt mit meiner roten Winterjacke durch Stadt und Land und lasse sie das tun, was vorher meine Speckschicht gemacht hat: mich warmhalten 😉
Man soll die Hand nicht beißen, die einen füttert.
Das würde mir ja im Traum nicht einfallen, aber jetzt muss ich mal was im Namen Tausender Dozenten loswerden, die sich um guten Deutschunterricht für Migranten – hierzulande insbesondere geflüchtete Menschen – kümmern. Klar, wir tun das nicht ausschließlich aus Selbstlosigkeit. Aber die allerwenigsten tun es nur, um sich ihre Brötchen zu verdienen. Um gute Dozenten zu haben, möchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) natürlich auch eine Qualitätsgarantie. Alles gut und richtig. Die Kriterien, nach denen diese Qualität gemessen wird, treiben allerdings oft genug allzu praxisfremde Blüten. Grundstock ist die Zulassung für Lehrkräfte in Integrationskursen. Dafür opfern wir schon viele Wochenenden, die für mich und meine damaligen MitstreiterInnen allerdings meistens vergnüglich waren, zumal wir ausnahmslos einer Meinung waren über die Inhalte der Zusatzqualifizierung: Theorie aus dem Elfenbeinturm, so gut wie kein blasser Schimmer aus dem richtigen Leben. Warum muss außerdem immer alles hochwissenschaftlich ausgedrückt werden? Das ändert nichts an den Tatsachen, denen wir Lehrer und Dozenten täglich ins Auge blicken. So viel behördliche Borniertheit konnten wir nur mit Humor nehmen.
Unsere Kursteilnehmer sind aber in der großen Mehrzahl Menschen, die den Theoretikern in den bundesdeutschen Universitäts- und Amtszimmern ungefähr fünf Leben an schrecklichen Erfahrungen voraus haben. Die aus Kulturkreisen mit völlig anderen Maßstäben kommen und sich hier erstmal an unsere Gegebenheiten gewöhnen müssen. Dabei machen WIR ebenso viele Fehler wie SIE. Niemand – wirklich niemand! – hat hier für alle Situationen und Gegebenheiten die ultimative Vorgehensweise, geschweige denn allgemeingültige Antwort parat.
In den mittlerweile fünf Zusatzqualifikationen, die ich zwecks besseren Unterrichtens absolviert habe, hatten meine Kolleg*innen und ich jedesmal das Gefühl, dass wir trotz meist jahrzehntelanger (!) Erfahrung immer noch für Anfänger gehalten werden. Und dass wir – neben einigem Nützlichem – vor allem theoretische „Grundlagen“ lernen sollen, die an der Unterrichtswirklichkeit nicht nur haarscharf vorbei gehen.
Nach den wenigen sonnigen Frühjahrswochenenden im Jahr 2021, die ich jeweils ganztags zusammen mit den anderen DeutschlehrerInnen im Virtuellen Klassenzimmer zubrachte, hatten wir dann fünf Wochen Zeit, um wieder mal ein Portfolio zu schreiben. Mit wissenschaftlicher Methodik ausleuchten, was in der täglichen Praxis nur selten seine Entsprechung findet.
Ich laufe eineinhalb Stunden hinter einer Verkäuferin her, um aufzuschreiben, welches deutsche Vokabular sie braucht. Ich höre mir ein Interview mit einer Teilnehmerin an, um festzustellen, dass die meisten Inhalte des „von oben“ ausgewählten Lehrbuchs mit ihrem Sprachbedarf im deutschen Alltag rein gar nichts zu tun haben. Ich analysiere einen Text aus dem Internet für einen C 1- Sprachkurs, damit die Korrektoren sehen, ob ich das Niveau richtig einschätzen kann. Nicht dass alle Teilnehmer dieser Zusatzqualifizierung notwendigerweise schon Tausende an Unterrichtsstunden und entsprechende Erfahrung in der Auswahl von geeignetem Unterrichtsmaterial hätten.. .. Ich logge mich ins Virtuelle Klassenzimmer eines Kollegen ein, um seinen Unterricht zu beobachten und zu reflektieren. Natürlich macht er seine Sache gut, wie auch sonst? Wenn das anders wäre, hätten seine Kurse und unser Bildungsträger keinen guten Ruf mehr. Das und eine Selbsteinschätzung, die von meiner Seite her ehrlich ist, aber genausogut fingiert sein könnte, gehört zum Portfolio.
Fazit: Wir gehören ebenso zum Gesamtbetrieb wie die Bildungsträger, die die Wünsche des BAMF umsetzen und daran verdienen. Ob die Inhalte nützlich sind, wird von fast allen angezweifelt, dieser Grundtenor ist einhellig! Aber es kurbelt die Wirtschaft an, zumindest auf diesem Sektor. Meine Kolleg*innen und ich nehmen aus der Zusatzqualifizierung lediglich die sofort praktisch umsetzbaren Inhalte mit, die wissenschaftlich verbrämte Theorie darf gern in ihrem Elfenbeinturm bleiben. Dort ist sie auch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, immerhin. Ich bleibe lieber mitten im Leben.
Als Journalistin in einem anderen Teil meines Lebens habe ich gelernt, dass nicht die Täter bestraft werden, sondern die Überbringer der Nachricht. Da ich aber hoffe, dass die Leser aus den Amtsstuben mit Einsicht und Reflexionsbegabung gesegnet sind, setze ich mal auf ein gemeinsames Feierabendbier – wahlweise auf eine Tasse Kaffee – statt auf mögliche Aberkennung der Qualifikationen. Das wäre fruchtbarer für ALLE Seiten.
Vom Himmel gefallen
Über uns wippende Tragflächen, unter uns eine weiße Wolkensuppe. „C’m on, let’s jump“ brüllt mein Tandempartner Carl gegen den Lärm von Wind und Motor, ich drücke meinen linken Fuß vom Pedal ab, das unter dem Viersitzer-Sportflugzeug hervorguckt, und falle. Das ist es aber nicht, was ich spüre, sondern ich bemerke den eisigen Luftzug am linken Ohr. „Hätte doch besser die Sturmhaube angezogen“, denke ich, beschließe aber, das Ziepen zu ignorieren. Wir haben die Wolke verlassen und der Horizont erstreckt sich kilometerweit über die Eifel. Sonnen- und Schattenfelder überziehen die Hügellandschaft, fast in greifbarer Nähe türmt sich eine Regenwolke auf. Ich „lege“ mich auf den Bauch und schaue nach unten. Der Flugplatz ist unter uns und Sasha, der mit seinem Tandempartner vor mir gesprungen ist, ist schon unter einem roten Fallschirm verschwunden. Jetzt ruckt es auch bei mir gewaltig, Carl und ich werden hochgerissen. Der Gurt schneidet in meinen Oberschenkel, und die Turbulenzen verursachen offenbar über das linke „Eis-Ohr“ eine leichte Übelkeit. Trotzdem: Das Feeling ist unvergleichlich! Sonne und kühler Wind, sattes Grün unter uns. Carl zeigt mir in der Ferne ein paar Sehenswürdigkeiten. „What about an irish song?“ frage ich ihn, und tatsächlich beginnt er zu singen… Es ist der erste August, und noch vor zwei Stunden schien es, als würde das Wetter uns einen Strich durch die Rechnung machen. Sashas unerschütterlicher Optimismus hat uns, allen Wetterkapriolen zum Trotz, hierher gebracht und zum ersten Mal erlebe ich, wovon ich träume, seit ich 16 bin. Sanft schweben wir dem grünen Landestreifen entgegen und ich muss meine Beine hochziehen, damit Carl uns sicher landen kann. Nur sieben Minuten, aber es hat sich angefühlt wie ein ganzer Abenteuer-Nachmittag. Und erst jetzt wird mir das klar, wonach mich später alle fragen: Nein, ich habe keine Sekunde lang Angst gehabt! http://www.firebird-skydiving.de
GemeinsamBunt – Konzert-Tour nach Berlin
Was ist queer?
Auf jeden Fall kein Einheitsbrei. Mein liebster Sohn und seine Kollegin, beide Ansprechpersonen der Berliner Polizei für Lesben, Schwule, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI), hatten schon für Mai 2020 zum „GemeinsamBunt“-Benefizkonzert eingeladen, das zweite seiner Art. Ging dann nicht aus den bekannten Gründen. Der Anteil der Hasskriminalität auf „queere“ Menschen war seit dem Vorjahr um 87 Prozent gestiegen. Die Gefahr, sich mit Corona anzustecken aber temporär gefallen, also nix wie rauf auf die Bühne.
Der Sohn, übrigens heterosexuell, glücklich verheiratet und dreifacher Vater, kann verdammt gut singen und hat das u.a. schon „Hinterm Horizont“ und bei „The Voice of Germany“ unter Beweis gestellt. Während seiner Bühnenzeit lernte er viele Kolleg*innen kennen, bei denen sich, wie so oft, künstlerische Begabung und Homosexualität gepaart hatten. Was sich hier fast wie alltäglich ausnimmt, sieht in anderen Teilen unserer Lebenswelt völlig anders aus. Das erfuhr er erst, als er den Beruf gewechselt hatte und bei der Polizei eingestiegen war.
Soviel zum Hintergrund. Die Karten waren schon seit Mai 2020 gebunkert, Ende August 2021 sollte es endlich soweit sein. Mit zwei schillernden Ladies aus der Familie ging es also zur Komödie am Kurfürstendamm, Höhepunkt meines KultURlaubs in diesem Jahr. Die meisten der Akteure waren Berliner Urgesteine und künstlerische Prominenz aus der heterosexuellen Ecke (jaja, die machen tatsächlich den Löwenanteil aus, genauso wie in der Gesamtbevölkerung. Zur Info für diejenigen, die Angst haben vor allem, was „anders“ ist).
Super-Stimmen, Instrumentals, Dance-Show und natürlich Info! Besonders gefreut hat mich, dass der bekannte Psychologe Ahmad Mansour da war, der einen glühenden Appell gegen die Homophobie vorbrachte. Wegweiser zu weiteren Künstlern und Mitwirkenden gibt’s unten – es waren so viele, dass ich niemand im Besonderen herausstellen möchte. Bis auf Sebastian Stipp, der die Idee dazu hatte und seine Kollegin Anne von Knoblauch, mit der er das Ganze initiiert hat. Und by the way, Sebastian hat auch gesungen, was Mama ja wieder die Tränen in die Augen getrieben hat vor Stolz und Rührung.
Der Erlös des Benefizabends ging an Organisationen, die Opfern der Hasskriminalität in Berlin helfen und Projekte, die die Toleranz fördern. Für manche kommt es zu spät. Zum Beispiel für einen 17-jährigen arabischer Abstammung, dessen Schädel von einem gehirnlosen Mob zertrümmert wurde, weil er die bunte Fahne der queeren Community geschwenkt hatte.
Für 2022 hier der heiße Tipp: Am 29.06. steigt das nächste Benefizkonzert. Infos gibt`s bei facebook und Instagram unter #gemeinsambunt .
#ahmadmansourofficial
Afghanischer Frauenverein – man wächst mit den Aufgaben
Die Ereignisse in Afghanistan haben sich seit Mai 2021 vor unser aller Augen überstürzt. Wir sitzen fassungslos vor den Nachrichten.
Dazwischen funken die Nachrichten aus dem Ahrtal und der Eifel. Die Betroffenheit ist groß, die Hilfsbereitschaft nach der Flut enorm. Zunächst denke ich: Klar, dass die Leute sich hier lieber engagieren. Das Unglück ist quasi vor unserer Haustür. Und natürlich haben die Menschen hier unsere Hilfe verdient.
Dass die Berichterstattung über die Lage in Afghanistan und die Spendenbereitschaft für dieses Land trotzdem Teil des öffentlichen Fokus bleibt, erstaunt und beruhigt mich zugleich. Meine Freundin Nadia Nashir Karim hat Gelegenheit, sich im ARD/ZDF-Morgenmagazin und in diversen Talkshows zu äußern. Sie hat vor fast 30 Jahren, während der ersten Taliban-Herrschaft, den Afghanischen Frauenverein gegründet. Ihr alter Freund und Studienkollege Roger Willemsen begleitete sie auf Reisen in ihre alte Heimat und wurde spontan Schirmherr des AFV, ließ Hunderte von Brunnen bauen, und sorgte bei öffentlichen Lesungen über seine Eindrücke für immer neue Spender und Mitglieder. Nach seinem viel zu frühen Tod Anfang 2016 übernahm Herbert Grönemeyer die Schirmherrschaft, und es werden jetzt auch Männer als Mitglieder zugelassen.
Roger Willemsen hat als notwendiges Projekt den Brunnenbau auf dem Land gefördert und so für Sicherheit und Gesundheit der Bevölkerung gesorgt.
Kennengelernt habe ich Nadia im beschaulichen Hagen am Teutoburger Wald, wo ich sie als Lokaljournalistin zwecks Spendenwerbung für ihre Projekte interviewen durfte. Das, was sie mir bei heißem Tee mit Koriander von ihren Reisen zu den Vereinsprojekten erzählte, trieb mir und wieder auch ihr die Tränen in die Augen. Und doch gab es damals noch Hoffnung, seit 2002 ging es langsam aufwärts für die Mädchen- (und Jungen-)Schulen, für Hebammenprojekte, medizinische Zentren für Frauen und Kinder, Stickerei- und Schneidereiausbildungen für verwitwete Mütter, Brunnenbau und jährliche Winternothilfe. Und so viel mehr. Mit einem Handstreich war plötzlich alles in Frage gestellt.
Vereinsfoto: In einer Mädchenschule in Afghanistan. Leider dürfen Mädchen UND Jungen jetzt nur noch bis zur 6. Klasse in die Schule gehen.
Nach Nadias Umzug nach Hamburg und der Verlegung des Vereinssitzes dorthin blieben wir privat weiter in Kontakt. Bei der Jahreshauptversammlung des Vereins am 25. September sahen wir uns nach längerer Zeit wieder und ich lernte u.a. die neue Geschäftsführerin des Vereins, Dr. Christina Ihle, kennen. Neben ihr und all den anderen wunderbaren, engagierten Frauen – vor allem Afghaninnen, die schon vor Jahrzehnten nach Deutschland flüchteten – kann sich der Verein mittlerweile über Tausende von Spendern und Unterstützern freuen. Was auch daran liegt, dass die Infrastruktur der Vereinsarbeit transparent ist und jede Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Der „Verwaltungs-Wasserkopf“ existiert hier einfach nicht, denn fast alles läuft übers Ehrenamt – auch Nadias Engagement.
Treffen mit Nadia in Bonn. Das Foto entstand auf der Jahreshauptversammlung des Afghanischen Frauenvereins e.V. im September 2021 .
Es ist fraglich, ob und wann sie oder eine der anderen tapferen Frauen wieder nach Afghanistan fliegen kann, um sich dort direkt davon zu überzeugen, dass die Vereinsarbeit funktioniert. Aber wir haben dort natürlich auch vertrauenswürdige (männliche!) Mitarbeiter vor Ort 🙂
Alle fünf Jahre treffen wir uns, und der Frühsommer ist dafür die beste Zeit. Wie damals nach dem Abitur: Die Nächte sind kurz und warm, die Stimmung euphorisch. Erstmals mussten wir wegen Corona verschieben. Auf den Spätsommer. Der Himmel war blau, das Lüftchen lau, aber es wurde früh dunkel und schnell empfindlich kalt. Egal, drinnen wurde weiter gefeiert, aber diesmal fehlen viele. Vor allem aus weiter entfernten Bundesländern oder aus dem Ausland. Corona sei Dank?! Zum ersten Mal schafft sich das Gefühl Platz, dass wir selbst im Spätsommer angekommen sind. Dass das Wetter zwar noch prima ist, die Sonne alles in goldenes Licht taucht – aber dass die Zeit am hellen, warmen Tag kürzer geworden ist. Einige sprechen schon davon, in den Ruhestand zu gehen. Das einstmals Sexiest girl alive – immer noch eine reine Augenweide und geheimer Schwarm aller „Jungs“ – hat eine Krebserkrankung hinter sich und trägt die Haare ungewohnt kurz. Der arrogante Klassenprimus von einst hat bereits vor Jahren seine akademische Karriere hingeworfen und ist Handwerker geworden. Er trägt einen langen, grauen Zopf und ist so entspannt und offen, dass man ihm diese Transformation von Herzen gönnt.
Ein anderer, Doktor von Amt und Würden, früher mein heimlicher Stern, hat die goldenen Locken und die lässige Motorradmontur gegen einen Bundeswehrhaarschnitt und Mikrofaserjacke eingetauscht. Wir blinzeln ein paar Erinnerungen weg. Meine Freundinnen sind auch fast alle da, von ihnen kann ich sowieso nie genug kriegen. Anne verspreche ich, ihre nächste Ausstellung zu besuchen. Sie malt fantastisch, Urban sketching knallbunt, das Talent hatte sie schon früh. Aber erst seit ein paar Jahren lebt sie es richtig aus. Marita ist dabei, sich als Innenarchitektin richtig zu profilieren. Es war ein steiniger Weg für sie, aber sie hat Möglichkeiten gefunden, die dicksten Brocken zu umgehen.
Ein Highlight, das ich diesmal mit ein bisschen Wehmut betrachte. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, hinzufahren. Das Foto, das wir alle geschossen haben aus Begeisterung für den schönen Anblick, zeigt gleichzeitig an, wo wir stehen. Noch ist es hell genug. Aber wer weiß, wie lange noch.
Ein Vierteljahr nach dem geplanten Start geht es mit unserem Pilotprojekt auf die Zielgerade: Die ersten beiden Berufssprachkurse mit Teilnehmern, die wegen wiederholt nicht bestandener B 1- Deutschprüfungen als auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar gelten, können beginnen. 16 Wochen lang gehen klassischer Anfänger-Deutschunterricht und Deutschkurs unter Arbeitsplatz-Bedingungen Hand in Hand. Maximal zehn Teilnehmer*innen sollen das Wichtigste wiederholen, was sie im sprachlichen Alltag brauchen. Gleichzeitig sollen sie alle relevanten Wörter und Sätze aus der Branche lernen, in der sie am liebsten zumindest als Helfer arbeiten würden.
In der Holz- und Metallwerkstatt sind acht Teilnehmer angemeldet, im Bereich Hotel- und Gaststätten (HoGa) – Küchenhilfe – sogar zehn.
Dem ausgetüftelten Konzept liegen jahrzehntelange Erfahrungen zugrunde – und doch werden wir alle jeden Tag auf’s Neue überrascht. Frauen, die nie eine Schule von innen gesehen und die auf Tempo ausgerichteten Alphabetisierungskurse nicht bestanden haben, zeigen sich als lernfreudige und kompetente Partner in der Küche. Der gestandene Koch, der ein eigenes Luxusrestaurant in einer syrischen Großstadt betrieben hat, hält sich daneben nur an den Fotos vergangener Erfolgstage fest und weigert sich, einer simplen, freundlich ausgesprochenen Bitte zu folgen. Ein ähnliches Bild im Technik-Kurs: Da kommen Profis zusammen, die kein „n“ von einem „e“ unterscheiden können, aber im Handumdrehen Metallkonstruktionen zusammenbauen, die mir die Schweißperlen auf die Stirn treiben würden.
Alle werden am Ende des Kurses Zertifikate bekommen. Auf ihnen soll eigentlich stehen, wie weit ihre Deutschkenntnisse im gewählten Bereich nun gediehen sind. Wir sind uns einig: Daran müssen wir andere Stellschrauben anlegen. Ob das BAMF damit glücklich ist, weiß ich nicht – das Jobcenter dürfte zufrieden sein, wenn einige tatsächlich als Helfer übernommen werden können. Als Deutschlehrerin, die lange Zeit in Integrationskursen, größtenteils mit Alphabetisierung, gearbeitet hat, ist mir die Geduldsarbeit eigentlich zur zweiten Natur geworden. So dachte ich. Aber hier sind nur die Teilnehmer, die an allen Prüfungen gescheitert sind. Aufbauend ist, dass sie wirklich fast alle motiviert sind – von zwei, drei Ausnahmen abgesehen. Viele sind als Kinder nie gefördert worden, Denken wurde als unwichtig, vielleicht sogar als gefährlich betrachtet. Ich kenne seit Jahren viele Flüchtlinge privat und habe von furchtbaren Erlebnissen erfahren. Das verlangt auch uns, die das nicht mit eigenen Augen gesehen oder am eigenen Leib erfahren haben, viel ab. Aber jetzt verstehe ich besser, warum man nach all dem Schrecklichen die Energie lieber auf etwas bündeln will, was keine Angst macht. Ich weiß: Nur die Stärksten kommen wirklich weiter. Aber wer bin ich, dass ich Menschen verurteile, die alles verloren haben und sich jetzt quasi auf einem fremden Planeten zurechtfinden müssen? Meine Voraussetzungen wären andere, bessere. Aber ich weiß nicht, wie ich unter genau den Umständen re – agieren würde, die sie durchgemacht haben und noch durchmachen.
Und noch etwas: Seit Beginn der 1990er Jahre unterrichte ich, mit einer Unterbrechungszeit als Journalistin, Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache. Seither ist kein einziger Monat vergangen, in dem ich nicht mindestens einmal gedacht hätte, wie verzwickt doch meine Muttersprache ist….
btr
There’s a light…
Die erste Geburtstagsfeier mit einer 6 vor der Null. Nach spontanem Entschluss werfen wir uns in den Fernzug und fahren nach Berlin. Hier feiert unsere Freundin, Mutter außerordentlich sportlicher Kinder, stilecht ihre 60 Lenze auf dem Olympiagelände.
Verwandte und Freunde aus der ganzen Welt sind da, ich sehe ihren Bruder und dessen Frau nach 37 Jahren wieder. Sie haben Fotos von damals dabei. Meine Freundin und ich hatten sie damals in St. Louis besucht. Graciela, die frisch aus Paraguay in die USA gekommen war, musste hier Englisch lernen. Also begleiteten meine Freundin und ich sie in die Schule. Die Atmosphäre dort faszinierte mich so sehr, dass ich zum ersten Mal darüber nachdachte, meine Muttersprache unterrichten zu wollen. Nicht in einer Schule, sondern in Kursen für Erwachsene. Aber das nur am Rande.
An diesem Abend hatten wir die Gelegenheit, uns auf den Glockenturm auf dem Olympiagelände führen zu lassen. Die klare Nacht bescherte uns atemberaubende Blicke auf die Hauptstadt. Aber der Clou war der Anblick des Olympiastadions. An diesem Tag hatte Hertha ein Heimspiel gehabt, und die Reinigungskolonnen brauchten bis weit in den Abend noch Licht. Wir hatten also besonderes Glück, das ich hier gerne teile 🙂
Dankbarkeit üben
Nicht alles, was man verliert, ist ein Verlust. Überflüssige Kilos zum Beispiel. Oder Kurzatmigkeit nach der letzten Zigarette.
Im negativen Sinn verloren habe ich 2021 Gott sei Dank wenig. Eine vermeintliche Herzensfreundin, die zur rigorosen Querdenkerin wurde. Ein Hinweis auf eine offizielle Statistik, die nicht in ihr neues Weltbild passte, genügte ihr, um mich aus ihrem Leben zu kicken.
Verloren habe ich die Selbstbeherrschung angesichts eines Kollegen, dessen unreifes Verhalten alle Beteiligten in Aufruhr versetzte. Dass ich meine Meinung über ihn an einige weitergegeben habe, war vermutlich ebenfalls unreif. Bis heute frage ich mich, welche meiner dunklen Seiten er spiegelt.
Auf der Haben-Seite ist deutlich mehr. Seit ich mich bewusst in Dankbarkeit übe für alles Wertvolle in meinem Leben, fällt es mir auch deutlicher auf. Die wichtigsten Faktoren nach der Gesundheit sind ganz klar die Menschen in meinem Leben. Meine Kinder und Enkelkinder, meine Mutter und meine Schwestern und alle, die angeheiratet sind und mit denen mich Wertschätzung verbindet. Ganz besonders dankbar bin ich für meinen Großcousin, mit dem ich seit gut zwei Jahren in einer WG ein Häuschen bewohne. Wir hatten trotz sechs Jahren Altersunterschied schon als Kinder einen guten Draht zueinander und manchmal frage ich mich, ob wir uns in früheren Leben in den verschiedensten Konstellationen bereits kannten. In diesem Leben fühlt es sich so an, als seien wir gewissermaßen Zwillinge. Die durchschnittliche Gesprächsdauer eines durchschnittlichen Paares überschreiten wir um ein Vielfaches, die Gesprächsinhalte betreffen in maximal zehn Prozent Alltags-Organisatorisches, alles andere ist Austausch und Reflexion, die uns beide in unserer Entwicklung weiter bringt. Und wir lachen sehr, sehr oft! Was für ein Schatz!
Zu meinen Schätzen gehören aber auch meine Freundinnen und Freunde. Viele kenne ich aus meiner Schulzeit, zwei aus dem ersten Studienjahr, sieben kamen später hinzu. Einige waren ein paar Jahre lang in einer Warteschleife, andere begleiten mich konstant. In Arbeit ist die neu zu definierende Freundschaft zu meinem Ex-Mann, mit dem mich drei Kinder und drei Enkel und 34 Ehejahre verbinden. Immerhin haben wir einen Rosenkrieg vermieden und sprechen ein paar Male im Jahr länger miteinander „ohne Not“. Das ist schön.
Dankbar bin ich dafür, eine feste Arbeitsstelle zu haben, auch wenn Corona uns oft gebeutelt hat. Es gab immer etwas, was wir dazulernen konnten. Es gibt vieles, was ich „habe“, vor allem aber „bin“ ich auch – am liebsten dankbar. Für gute Entwicklungen bei meinen Kindern. Dafür, dass meine Mutter, meine Schwestern und mein Großcousin eine stabile Gesundheit haben. Dafür, dass mein Lebensgefühl eine Kehrtwende geschafft hat: Weg vom Mangeldenken. Hin zum Bewusstsein, wie wertvoll Freiheit und echte Wertschätzung sind.
Warum ist das ein großes Kapitel in meinem Jahresrückblog?
Weil Dankbarkeit eine schwierige Übung ist. Vieles scheint so selbstverständlich, alltäglich. Corona hat in meinem Umfeld Gott sei Dank niemanden mit Langzeitfolgen oder gar tödlich heimgesucht. Das Unvermögen der Bundes- und Landesregierungen, gute Schulbildung und ausreichende Digitalisierung zu gewährleisten, hat mich durchaus auf die Palme gebracht. Genauso die querdenkerischen Schwurbeleien, die vom wichtigsten Thema überhaupt abgelenkt haben: dem Klimaschutz. Ich bin froh, in einer Demokratie zu leben, aber das ständige Hin und Her hat einigen Fortschritt vermasselt. Jetzt bleibt abzuwarten, was die Ampel in Bewegung setzen kann.
Und ich bin dankbar, in Frieden zu leben. In meiner Heimat zu leben. Zusammen mit einem Freund, der aus dem Kriegsland Syrien flüchten musste, und einigen seiner Landsleute, möchte ich nächstes Jahr einen Verein vorstellen, dessen Eintrag ins Amtsregister bereits läuft. Dass ich eine Art „Helfersyndrom“ habe, dürften meine Leser bis hierhin sicher erkannt haben. Aber Hilfe zur Selbsthilfe halte ich für das Wichtigste. Denn wir entwickeln uns nur dann weiter, wenn wir Verantwortung übernehmen. Wir für uns und für alle.
Meine drei emotionalsten Momente in diesem Jahr
Parachuting… Mein erster Fallschirmsprung, ein paar Stunden vorher noch für unmöglich gehalten, weil das Wetter nicht mitspielen wollte. Aber dann.. siehe oben. Was ich seitdem über mich weiß: Ich bin kein Angsthase. Und: Das nächste Mal trage ich eine Sturmhaube, damit die Ohren schön warm bleiben 😉
2. Der Lotse geht von Bord… Ein paar Wochen vorher hab ich nachts davon geträumt, jetzt lese ich es an einem Freitagnachmittag in der letzten Arbeitsmail der Woche: Der Chef wird ab Anfang 2022 weg sein. Den Rest des Tages fühle ich mich wie ein Zombie. Diesem Menschen verdanke ich viel, wir haben uns gut verstanden. Am nächsten Tag schaffe ich es, ihm zu schreiben, und ich bekomme eine außerordentlich wertschätzende Antwort. Na, vielleicht sehen wir uns ja auch zweimal in diesem Leben.
3. Gespräche mit meinen Töchtern. Das schreibe ich bewusst zum Schluss, weil es sehr privat ist. Aber seid sicher: Es gehört an die erste Stelle!