Mein Jahresrückblick 2021:

Wähle das Ziel und liebe den Weg!
Gut durchs Jahr zu kommen, ist das ein Ziel? Klar, und angesichts der Themen, die wir in diesem Jahr unfreiwillig annehmen mussten – Arbeit unter Corona-Bedingungen, Umweltkatastrophen, neuer Abgrund in Afghanistan, die Neun nach der Fünf – hatte der Weg durchaus Seiten, die nicht ganz so liebenswert waren. Aber frischwärts losgestiefelt ist halb geschafft! Hier also mein Jahr 2021.
Neue Konzepte – Hut auf für neue Berufssprachkurse
Es ist Winter.
Corona hat uns viele Striche durch noch mehr Rechnungen gemacht. Die Bundesbehörden haben Maßnahmen eingestampft, die uns getragen haben, aber diese Kolosse können sich auch in neue Richtungen bewegen. Anruf im Morgengrauen, der Chef klingt noch verschlafen: Das Dingens-Konzept läuft aus, aber wir dürfen ein anderes Konzept entwerfen, weil wir Werkstätten haben. Wir trommeln ein paar Leute zusammen und besprechen, wie wir es machen. Und, ähm, du kriegst den Hut auf. Na super, die Leute sagen, ich hätte ein „Hutgesicht“. Aber das hier?! Mal sehen.
Jetzt mal Klartext: Mein Arbeitgeber ist auf vielen Schienen der Weiterbildung unterwegs, auch im Bereich „Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache“. Bisher haben wir alle Farben und Formen von Deutschkursen angeboten, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Rücken. Da viele Leute keine Lust haben auf Virtuelles Klassenzimmer (oder eher: W-LAN-Abrisse…), sollen wir die Zeit nutzen und neue Möglichkeiten für Migranten entwerfen, die an allen Sprachprüfungen gescheitert sind und auch keine weitere Prüfung mehr bezahlt bekommen. Sie sollen wenigstens so viel Deutsch lernen, dass sie sich in einer Helfertätigkeit zurechtfinden. Unser Plus: Wir haben Lehrwerkstätten und Fachanleiter. Und Deutschlehrer, klar. Auch klar ist aber, dass solche Kurse nicht virtuell bzw. online stattfinden können. Wir müssen uns also sputen, ein Präsenz-Konzept hinzubekommen, das die Kurse direkt nach dem Lockdown füllt. Sechs Wochen haben wir Zeit. Meine Profis sind gestandene Experten aus Küche und Backstube, Holz- und Metallwerkstatt, Lager, Pflege und Reinigung. Einsames Durchwühlen durch andere BAMF-Konzepte und -Vorgaben, ältere Maßnahmenpapiere, den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für die Einschätzung von Sprachkenntnissen, aber auch lebhafter Austausch mit den Profis über Learning by Doing im Maximum der gewährten Zeit. Ergebnis: Innerhalb von 16 Wochen Kursdauer sollen Migranten mit geringen Sprachkenntnissen und ausgeschöpftem Prüfungskontingent in einem neuartigen Berufssprachkurs lernen, Anweisungen zu verstehen und umzusetzen. Aber zack zack! Immerhin dürfen sie sich aussuchen, ob sie das in einer Großküche tun wollen, in einem Lager, in einer Werkstatt oder im Plastik-Altenheim. Eine Abschlussprüfung soll es nicht geben, aber ein Zertifikat, auf dem in freundlichen Worten steht, was der/die Teilnehmende kann. Was er nicht kann, steht dann im Kleingedruckten auf der Rückseite. Soweit die hehre Absicht und grobe Theorie.
Die Behörde tut, was sie immer tut: Sie zeigt uns, wer der Herr im Haus ist. Also darf ich brav eine klitzekleine Änderung vornehmen, die uns am Ende sogar noch eine Extra-Prämie einfährt. Ja, ihr ahnt es: Das war auch für meine Profis und mich eine Art von Arbeits-Beschaffungs-Maßnahme im Corona-Lockdown! Jetzt wollen wir wieder an der anderen Seite des Tisches sitzen und Menschen Hoffnung geben, die sie ebenfalls brauchen. Die Behörden werden mit Informations-Flyern geflutet und wir stehen in den Startlöchern.
Es ist Frühling!

Vom Nichtraucher zum Besser-Esser
Wer am Glimmstängel saugt, will in Wahrheit Input von Mama. Oder sonst wem, den man für existentiell wichtig hält. Okay, wer widersprechen will, darf mich gern belehren, ich bin kein Psychologe. 23 Jahre lang war ich nichtrauchende Mama, dann waren Mann und Kinder aus dem Haus und das vermeintlich existentiell wichtige Objekt meiner Begierde wollte auch nicht so, wie ich gern wollte. Recht hatte er, wie ich heute weiß, aber nicht, weil wir einander nicht verdient hätten. Sondern weil… ach, das führt ins Unendliche. Schon vor Jahresanbruch war dieser Lieblingsmensch raus aus meinem Leben, es ging mir besser. Nur die Zigaretten waren noch da, und fast täglich gab es neue. Und mit ihnen Kurzatmigkeit, Halskratzen und das dumpfe Gefühl, mit einem Schlaganfall zu enden wie ein Großteil der Altvorderen. Da hüpfte mir auf Instagram ein Raucher-Entwöhnungsprogramm zwischen die Augen, erstaunlich günstig und sowas von easy. Spontaner Einstieg, jeden Tag ein kleiner, freundlicher Denkzettel, und nach zweieinhalb Wochen die Ankündigung, dass ich morgen meine letzte Zigarette rauche. Jippiiie, na endlich. Schnell noch eine Schachtel gekauft, mit der Chefin am nächsten Tag gefühlt zehn Raucherpausen gemacht, und abends dann das große Abschiedsritual. Warmherziger Beistand vom Lieblingscousin, unterstützt von einigen hundert trällernden Piepmätzen. Ach, ich kann euch keinen Wunsch abschlagen! Saubere Luft sollt ihr haben. Und ich natürlich auch.
Oh Wunder, es hat geklappt. Ohne viel Federlesens, einfach so. Wie damals, als ich bei aufkommenden Schwangerschaften zack die Stängel liegen ließ, weil ich mir vorstellte, wie mein Minime das Japsen anfängt.
Das dicke Ende stellte sich rasch ein. Meine Hausärztin, Raucherin aus Leidenschaft und 30 Kilo zu schwer – eine tolle Frau! – lachte mit mir gemeinsam über die störrischen Kilos, hob aber sicherheitshalber den Zeigefinger. Dann tauchte eine alte Freundin bei mir auf, die mir großzügig ihre 44er Klamotten anpries. Sie war wieder auf 38.
Es folgten Abnehmprogramm-Checks und hunderttausend „Ich müsste jetzt…“
Gesiegt hat die neue Winterjacke, die viel zu eng und viel zu teuer war, um sie weiter zu verschenken. Mit viel Eiweiß und noch mehr Bewegung kam die Abwärtsspirale also langsam in Gang. Meine Freundin, ihres Zeichens Gourmet-Köchin für den besonderen Feinschmecker-Abend in den eigenen vier Wänden, zauberte außerdem Fünf-Gänge-Menüs aus der Pfanne, nach denen keine (r ) von uns mehr Feindschaft mit der Waage hatte.
Neun Minuskilos später stapfe ich jetzt mit meiner roten Winterjacke durch Stadt und Land und lasse sie das tun, was vorher meine Speckschicht gemacht hat: mich warmhalten 😉

Sind Dozent*innen dümmer, als das Amt erlaubt?
Man soll die Hand nicht beißen, die einen füttert.
Das würde mir ja im Traum nicht einfallen, aber jetzt muss ich mal was im Namen Tausender Dozenten loswerden, die sich um guten Deutschunterricht für Migranten – hierzulande insbesondere geflüchtete Menschen – kümmern. Klar, wir tun das nicht ausschließlich aus Selbstlosigkeit. Aber die allerwenigsten tun es nur, um sich ihre Brötchen zu verdienen. Um gute Dozenten zu haben, möchte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) natürlich auch eine Qualitätsgarantie. Alles gut und richtig. Die Kriterien, nach denen diese Qualität gemessen wird, treiben allerdings oft genug allzu praxisfremde Blüten. Grundstock ist die Zulassung für Lehrkräfte in Integrationskursen. Dafür opfern wir schon viele Wochenenden, die für mich und meine damaligen MitstreiterInnen allerdings meistens vergnüglich waren, zumal wir ausnahmslos einer Meinung waren über die Inhalte der Zusatzqualifizierung: Theorie aus dem Elfenbeinturm, so gut wie kein blasser Schimmer aus dem richtigen Leben. Warum muss außerdem immer alles hochwissenschaftlich ausgedrückt werden? Das ändert nichts an den Tatsachen, denen wir Lehrer und Dozenten täglich ins Auge blicken. So viel behördliche Borniertheit konnten wir nur mit Humor nehmen.
Unsere Kursteilnehmer sind aber in der großen Mehrzahl Menschen, die den Theoretikern in den bundesdeutschen Universitäts- und Amtszimmern ungefähr fünf Leben an schrecklichen Erfahrungen voraus haben. Die aus Kulturkreisen mit völlig anderen Maßstäben kommen und sich hier erstmal an unsere Gegebenheiten gewöhnen müssen. Dabei machen WIR ebenso viele Fehler wie SIE. Niemand – wirklich niemand! – hat hier für alle Situationen und Gegebenheiten die ultimative Vorgehensweise, geschweige denn allgemeingültige Antwort parat.
In den mittlerweile fünf Zusatzqualifikationen, die ich zwecks besseren Unterrichtens absolviert habe, hatten meine Kolleg*innen und ich jedesmal das Gefühl, dass wir trotz meist jahrzehntelanger (!) Erfahrung immer noch für Anfänger gehalten werden. Und dass wir – neben einigem Nützlichem – vor allem theoretische „Grundlagen“ lernen sollen, die an der Unterrichtswirklichkeit nicht nur haarscharf vorbei gehen.
Nach den wenigen sonnigen Frühjahrswochenenden im Jahr 2021, die ich jeweils ganztags zusammen mit den anderen DeutschlehrerInnen im Virtuellen Klassenzimmer zubrachte, hatten wir dann fünf Wochen Zeit, um wieder mal ein Portfolio zu schreiben. Mit wissenschaftlicher Methodik ausleuchten, was in der täglichen Praxis nur selten seine Entsprechung findet.
Ich laufe eineinhalb Stunden hinter einer Verkäuferin her, um aufzuschreiben, welches deutsche Vokabular sie braucht. Ich höre mir ein Interview mit einer Teilnehmerin an, um festzustellen, dass die meisten Inhalte des „von oben“ ausgewählten Lehrbuchs mit ihrem Sprachbedarf im deutschen Alltag rein gar nichts zu tun haben. Ich analysiere einen Text aus dem Internet für einen C 1- Sprachkurs, damit die Korrektoren sehen, ob ich das Niveau richtig einschätzen kann. Nicht dass alle Teilnehmer dieser Zusatzqualifizierung notwendigerweise schon Tausende an Unterrichtsstunden und entsprechende Erfahrung in der Auswahl von geeignetem Unterrichtsmaterial hätten.. .. Ich logge mich ins Virtuelle Klassenzimmer eines Kollegen ein, um seinen Unterricht zu beobachten und zu reflektieren. Natürlich macht er seine Sache gut, wie auch sonst? Wenn das anders wäre, hätten seine Kurse und unser Bildungsträger keinen guten Ruf mehr. Das und eine Selbsteinschätzung, die von meiner Seite her ehrlich ist, aber genausogut fingiert sein könnte, gehört zum Portfolio.
Fazit: Wir gehören ebenso zum Gesamtbetrieb wie die Bildungsträger, die die Wünsche des BAMF umsetzen und daran verdienen. Ob die Inhalte nützlich sind, wird von fast allen angezweifelt, dieser Grundtenor ist einhellig! Aber es kurbelt die Wirtschaft an, zumindest auf diesem Sektor. Meine Kolleg*innen und ich nehmen aus der Zusatzqualifizierung lediglich die sofort praktisch umsetzbaren Inhalte mit, die wissenschaftlich verbrämte Theorie darf gern in ihrem Elfenbeinturm bleiben. Dort ist sie auch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, immerhin. Ich bleibe lieber mitten im Leben.
Als Journalistin in einem anderen Teil meines Lebens habe ich gelernt, dass nicht die Täter bestraft werden, sondern die Überbringer der Nachricht. Da ich aber hoffe, dass die Leser aus den Amtsstuben mit Einsicht und Reflexionsbegabung gesegnet sind, setze ich mal auf ein gemeinsames Feierabendbier – wahlweise auf eine Tasse Kaffee – statt auf mögliche Aberkennung der Qualifikationen. Das wäre fruchtbarer für ALLE Seiten.

Vom Himmel gefallen

Über uns wippende Tragflächen, unter uns eine weiße Wolkensuppe. „C’m on, let’s jump“ brüllt mein Tandempartner Carl gegen den Lärm von Wind und Motor, ich drücke meinen linken Fuß vom Pedal ab, das unter dem Viersitzer-Sportflugzeug hervorguckt, und falle. Das ist es aber nicht, was ich spüre, sondern ich bemerke den eisigen Luftzug am linken Ohr. „Hätte doch besser die Sturmhaube angezogen“, denke ich, beschließe aber, das Ziepen zu ignorieren. Wir haben die Wolke verlassen und der Horizont erstreckt sich kilometerweit über die Eifel. Sonnen- und Schattenfelder überziehen die Hügellandschaft, fast in greifbarer Nähe türmt sich eine Regenwolke auf. Ich „lege“ mich auf den Bauch und schaue nach unten. Der Flugplatz ist unter uns und Sasha, der mit seinem Tandempartner vor mir gesprungen ist, ist schon unter einem roten Fallschirm verschwunden. Jetzt ruckt es auch bei mir gewaltig, Carl und ich werden hochgerissen. Der Gurt schneidet in meinen Oberschenkel, und die Turbulenzen verursachen offenbar über das linke „Eis-Ohr“ eine leichte Übelkeit. Trotzdem: Das Feeling ist unvergleichlich! Sonne und kühler Wind, sattes Grün unter uns. Carl zeigt mir in der Ferne ein paar Sehenswürdigkeiten. „What about an irish song?“ frage ich ihn, und tatsächlich beginnt er zu singen… Es ist der erste August, und noch vor zwei Stunden schien es, als würde das Wetter uns einen Strich durch die Rechnung machen. Sashas unerschütterlicher Optimismus hat uns, allen Wetterkapriolen zum Trotz, hierher gebracht und zum ersten Mal erlebe ich, wovon ich träume, seit ich 16 bin. Sanft schweben wir dem grünen Landestreifen entgegen und ich muss meine Beine hochziehen, damit Carl uns sicher landen kann. Nur sieben Minuten, aber es hat sich angefühlt wie ein ganzer Abenteuer-Nachmittag. Und erst jetzt wird mir das klar, wonach mich später alle fragen: Nein, ich habe keine Sekunde lang Angst gehabt! http://www.firebird-skydiving.de

GemeinsamBunt – Konzert-Tour nach Berlin

Was ist queer?
Auf jeden Fall kein Einheitsbrei. Mein liebster Sohn und seine Kollegin, beide Ansprechpersonen der Berliner Polizei für Lesben, Schwule, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LSBTI), hatten schon für Mai 2020 zum „GemeinsamBunt“-Benefizkonzert eingeladen, das zweite seiner Art. Ging dann nicht aus den bekannten Gründen. Der Anteil der Hasskriminalität auf „queere“ Menschen war seit dem Vorjahr um 87 Prozent gestiegen. Die Gefahr, sich mit Corona anzustecken aber temporär gefallen, also nix wie rauf auf die Bühne.
Der Sohn, übrigens heterosexuell, glücklich verheiratet und dreifacher Vater, kann verdammt gut singen und hat das u.a. schon „Hinterm Horizont“ und bei „The Voice of Germany“ unter Beweis gestellt. Während seiner Bühnenzeit lernte er viele Kolleg*innen kennen, bei denen sich, wie so oft, künstlerische Begabung und Homosexualität gepaart hatten. Was sich hier fast wie alltäglich ausnimmt, sieht in anderen Teilen unserer Lebenswelt völlig anders aus. Das erfuhr er erst, als er den Beruf gewechselt hatte und bei der Polizei eingestiegen war.
Soviel zum Hintergrund.
Die Karten waren schon seit Mai 2020 gebunkert, Ende August 2021 sollte es endlich soweit sein. Mit zwei schillernden Ladies aus der Familie ging es also zur Komödie am Kurfürstendamm, Höhepunkt meines KultURlaubs in diesem Jahr. Die meisten der Akteure waren Berliner Urgesteine und künstlerische Prominenz aus der heterosexuellen Ecke (jaja, die machen tatsächlich den Löwenanteil aus, genauso wie in der Gesamtbevölkerung. Zur Info für diejenigen, die Angst haben vor allem, was „anders“ ist).
Super-Stimmen, Instrumentals, Dance-Show und natürlich Info! Besonders gefreut hat mich, dass der bekannte Psychologe Ahmad Mansour da war, der einen glühenden Appell gegen die Homophobie vorbrachte. Wegweiser zu weiteren Künstlern und Mitwirkenden gibt’s unten – es waren so viele, dass ich niemand im Besonderen herausstellen möchte. Bis auf Sebastian Stipp, der die Idee dazu hatte und seine Kollegin Anne von Knoblauch, mit der er das Ganze initiiert hat. Und by the way, Sebastian hat auch gesungen, was Mama ja wieder die Tränen in die Augen getrieben hat vor Stolz und Rührung.
Der Erlös des Benefizabends ging an Organisationen, die Opfern der Hasskriminalität in Berlin helfen und Projekte, die die Toleranz fördern. Für manche kommt es zu spät. Zum Beispiel für einen 17-jährigen arabischer Abstammung, dessen Schädel von einem gehirnlosen Mob zertrümmert wurde, weil er die bunte Fahne der queeren Community geschwenkt hatte.
Für 2022 hier der heiße Tipp: Am 29.06. steigt das nächste Benefizkonzert. Infos gibt`s bei facebook und Instagram unter #gemeinsambunt .


Afghanischer Frauenverein – man wächst mit den Aufgaben

Die Ereignisse in Afghanistan haben sich seit Mai 2021 vor unser aller Augen überstürzt. Wir sitzen fassungslos vor den Nachrichten.
Dazwischen funken die Nachrichten aus dem Ahrtal und der Eifel. Die Betroffenheit ist groß, die Hilfsbereitschaft nach der Flut enorm. Zunächst denke ich: Klar, dass die Leute sich hier lieber engagieren. Das Unglück ist quasi vor unserer Haustür. Und natürlich haben die Menschen hier unsere Hilfe verdient.
Dass die Berichterstattung über die Lage in Afghanistan und die Spendenbereitschaft für dieses Land trotzdem Teil des öffentlichen Fokus bleibt, erstaunt und beruhigt mich zugleich. Meine Freundin Nadia Nashir Karim hat Gelegenheit, sich im ARD/ZDF-Morgenmagazin und in diversen Talkshows zu äußern. Sie hat vor fast 30 Jahren, während der ersten Taliban-Herrschaft, den Afghanischen Frauenverein gegründet. Ihr alter Freund und Studienkollege Roger Willemsen begleitete sie auf Reisen in ihre alte Heimat und wurde spontan Schirmherr des AFV, ließ Hunderte von Brunnen bauen, und sorgte bei öffentlichen Lesungen über seine Eindrücke für immer neue Spender und Mitglieder. Nach seinem viel zu frühen Tod Anfang 2016 übernahm Herbert Grönemeyer die Schirmherrschaft, und es werden jetzt auch Männer als Mitglieder zugelassen.

Kennengelernt habe ich Nadia im beschaulichen Hagen am Teutoburger Wald, wo ich sie als Lokaljournalistin zwecks Spendenwerbung für ihre Projekte interviewen durfte. Das, was sie mir bei heißem Tee mit Koriander von ihren Reisen zu den Vereinsprojekten erzählte, trieb mir und wieder auch ihr die Tränen in die Augen. Und doch gab es damals noch Hoffnung, seit 2002 ging es langsam aufwärts für die Mädchen- (und Jungen-)Schulen, für Hebammenprojekte, medizinische Zentren für Frauen und Kinder, Stickerei- und Schneidereiausbildungen für verwitwete Mütter, Brunnenbau und jährliche Winternothilfe. Und so viel mehr. Mit einem Handstreich war plötzlich alles in Frage gestellt.

Nach Nadias Umzug nach Hamburg und der Verlegung des Vereinssitzes dorthin blieben wir privat weiter in Kontakt. Bei der Jahreshauptversammlung des Vereins am 25. September sahen wir uns nach längerer Zeit wieder und ich lernte u.a. die neue Geschäftsführerin des Vereins, Dr. Christina Ihle, kennen. Neben ihr und all den anderen wunderbaren, engagierten Frauen – vor allem Afghaninnen, die schon vor Jahrzehnten nach Deutschland flüchteten – kann sich der Verein mittlerweile über Tausende von Spendern und Unterstützern freuen. Was auch daran liegt, dass die Infrastruktur der Vereinsarbeit transparent ist und jede Hilfe dort ankommt, wo sie gebraucht wird. Der „Verwaltungs-Wasserkopf“ existiert hier einfach nicht, denn fast alles läuft übers Ehrenamt – auch Nadias Engagement.

Es ist fraglich, ob und wann sie oder eine der anderen tapferen Frauen wieder nach Afghanistan fliegen kann, um sich dort direkt davon zu überzeugen, dass die Vereinsarbeit funktioniert. Aber wir haben dort natürlich auch vertrauenswürdige (männliche!) Mitarbeiter vor Ort 🙂
Klassentreffen 40 plus
Alle fünf Jahre treffen wir uns, und der Frühsommer ist dafür die beste Zeit. Wie damals nach dem Abitur: Die Nächte sind kurz und warm, die Stimmung euphorisch. Erstmals mussten wir wegen Corona verschieben. Auf den Spätsommer. Der Himmel war blau, das Lüftchen lau, aber es wurde früh dunkel und schnell empfindlich kalt. Egal, drinnen wurde weiter gefeiert, aber diesmal fehlen viele. Vor allem aus weiter entfernten Bundesländern oder aus dem Ausland. Corona sei Dank?! Zum ersten Mal schafft sich das Gefühl Platz, dass wir selbst im Spätsommer angekommen sind. Dass das Wetter zwar noch prima ist, die Sonne alles in goldenes Licht taucht – aber dass die Zeit am hellen, warmen Tag kürzer geworden ist. Einige sprechen schon davon, in den Ruhestand zu gehen. Das einstmals Sexiest girl alive – immer noch eine reine Augenweide und geheimer Schwarm aller „Jungs“ – hat eine Krebserkrankung hinter sich und trägt die Haare ungewohnt kurz. Der arrogante Klassenprimus von einst hat bereits vor Jahren seine akademische Karriere hingeworfen und ist Handwerker geworden. Er trägt einen langen, grauen Zopf und ist so entspannt und offen, dass man ihm diese Transformation von Herzen gönnt.
Ein anderer, Doktor von Amt und Würden, früher mein heimlicher Stern, hat die goldenen Locken und die lässige Motorradmontur gegen einen Bundeswehrhaarschnitt und Mikrofaserjacke eingetauscht. Wir blinzeln ein paar Erinnerungen weg. Meine Freundinnen sind auch fast alle da, von ihnen kann ich sowieso nie genug kriegen. Anne verspreche ich, ihre nächste Ausstellung zu besuchen. Sie malt fantastisch, Urban sketching knallbunt, das Talent hatte sie schon früh. Aber erst seit ein paar Jahren lebt sie es richtig aus. Marita ist dabei, sich als Innenarchitektin richtig zu profilieren. Es war ein steiniger Weg für sie, aber sie hat Möglichkeiten gefunden, die dicksten Brocken zu umgehen.
Ein Highlight, das ich diesmal mit ein bisschen Wehmut betrachte. Ich bin froh, dass ich es geschafft habe, hinzufahren. Das Foto, das wir alle geschossen haben aus Begeisterung für den schönen Anblick, zeigt gleichzeitig an, wo wir stehen. Noch ist es hell genug. Aber wer weiß, wie lange noch.

www.annepeppersack.de ; www.wilken-architekt.de
www.innenarchitektur-mk.de ; www.sattlerei-henn.de
Konzept umgesetzt – neue Erfahrungen, neue Rolle
Ein Vierteljahr nach dem geplanten Start geht es mit unserem Pilotprojekt auf die Zielgerade: Die ersten beiden Berufssprachkurse mit Teilnehmern, die wegen wiederholt nicht bestandener B 1- Deutschprüfungen als auf dem Arbeitsmarkt schwer vermittelbar gelten, können beginnen. 16 Wochen lang gehen klassischer Anfänger-Deutschunterricht und Deutschkurs unter Arbeitsplatz-Bedingungen Hand in Hand. Maximal zehn Teilnehmer*innen sollen das Wichtigste wiederholen, was sie im sprachlichen Alltag brauchen. Gleichzeitig sollen sie alle relevanten Wörter und Sätze aus der Branche lernen, in der sie am liebsten zumindest als Helfer arbeiten würden.
In der Holz- und Metallwerkstatt sind acht Teilnehmer angemeldet, im Bereich Hotel- und Gaststätten (HoGa) – Küchenhilfe – sogar zehn.
Dem ausgetüftelten Konzept liegen jahrzehntelange Erfahrungen zugrunde – und doch werden wir alle jeden Tag auf’s Neue überrascht. Frauen, die nie eine Schule von innen gesehen und die auf Tempo ausgerichteten Alphabetisierungskurse nicht bestanden haben, zeigen sich als lernfreudige und kompetente Partner in der Küche. Der gestandene Koch, der ein eigenes Luxusrestaurant in einer syrischen Großstadt betrieben hat, hält sich daneben nur an den Fotos vergangener Erfolgstage fest und weigert sich, einer simplen, freundlich ausgesprochenen Bitte zu folgen. Ein ähnliches Bild im Technik-Kurs: Da kommen Profis zusammen, die kein „n“ von einem „e“ unterscheiden können, aber im Handumdrehen Metallkonstruktionen zusammenbauen, die mir die Schweißperlen auf die Stirn treiben würden.
Alle werden am Ende des Kurses Zertifikate bekommen. Auf ihnen soll eigentlich stehen, wie weit ihre Deutschkenntnisse im gewählten Bereich nun gediehen sind. Wir sind uns einig: Daran müssen wir andere Stellschrauben anlegen. Ob das BAMF damit glücklich ist, weiß ich nicht – das Jobcenter dürfte zufrieden sein, wenn einige tatsächlich als Helfer übernommen werden können. Als Deutschlehrerin, die lange Zeit in Integrationskursen, größtenteils mit Alphabetisierung, gearbeitet hat, ist mir die Geduldsarbeit eigentlich zur zweiten Natur geworden. So dachte ich. Aber hier sind nur die Teilnehmer, die an allen Prüfungen gescheitert sind. Aufbauend ist, dass sie wirklich fast alle motiviert sind – von zwei, drei Ausnahmen abgesehen. Viele sind als Kinder nie gefördert worden, Denken wurde als unwichtig, vielleicht sogar als gefährlich betrachtet. Ich kenne seit Jahren viele Flüchtlinge privat und habe von furchtbaren Erlebnissen erfahren. Das verlangt auch uns, die das nicht mit eigenen Augen gesehen oder am eigenen Leib erfahren haben, viel ab. Aber jetzt verstehe ich besser, warum man nach all dem Schrecklichen die Energie lieber auf etwas bündeln will, was keine Angst macht. Ich weiß: Nur die Stärksten kommen wirklich weiter. Aber wer bin ich, dass ich Menschen verurteile, die alles verloren haben und sich jetzt quasi auf einem fremden Planeten zurechtfinden müssen? Meine Voraussetzungen wären andere, bessere. Aber ich weiß nicht, wie ich unter genau den Umständen re – agieren würde, die sie durchgemacht haben und noch durchmachen.
Und noch etwas: Seit Beginn der 1990er Jahre unterrichte ich, mit einer Unterbrechungszeit als Journalistin, Deutsch als Fremd- bzw. Zweitsprache. Seither ist kein einziger Monat vergangen, in dem ich nicht mindestens einmal gedacht hätte, wie verzwickt doch meine Muttersprache ist….


There’s a light…

Die erste Geburtstagsfeier mit einer 6 vor der Null. Nach spontanem Entschluss werfen wir uns in den Fernzug und fahren nach Berlin. Hier feiert unsere Freundin, Mutter außerordentlich sportlicher Kinder, stilecht ihre 60 Lenze auf dem Olympiagelände.
Verwandte und Freunde aus der ganzen Welt sind da, ich sehe ihren Bruder und dessen Frau nach 37 Jahren wieder. Sie haben Fotos von damals dabei. Meine Freundin und ich hatten sie damals in St. Louis besucht. Graciela, die frisch aus Paraguay in die USA gekommen war, musste hier Englisch lernen. Also begleiteten meine Freundin und ich sie in die Schule. Die Atmosphäre dort faszinierte mich so sehr, dass ich zum ersten Mal darüber nachdachte, meine Muttersprache unterrichten zu wollen. Nicht in einer Schule, sondern in Kursen für Erwachsene. Aber das nur am Rande.
An diesem Abend hatten wir die Gelegenheit, uns auf den Glockenturm auf dem Olympiagelände führen zu lassen. Die klare Nacht bescherte uns atemberaubende Blicke auf die Hauptstadt. Aber der Clou war der Anblick des Olympiastadions. An diesem Tag hatte Hertha ein Heimspiel gehabt, und die Reinigungskolonnen brauchten bis weit in den Abend noch Licht. Wir hatten also besonderes Glück, das ich hier gerne teile 🙂
Dankbarkeit üben
Nicht alles, was man verliert, ist ein Verlust. Überflüssige Kilos zum Beispiel. Oder Kurzatmigkeit nach der letzten Zigarette.
Im negativen Sinn verloren habe ich 2021 Gott sei Dank wenig. Eine vermeintliche Herzensfreundin, die zur rigorosen Querdenkerin wurde. Ein Hinweis auf eine offizielle Statistik, die nicht in ihr neues Weltbild passte, genügte ihr, um mich aus ihrem Leben zu kicken.
Verloren habe ich die Selbstbeherrschung angesichts eines Kollegen, dessen unreifes Verhalten alle Beteiligten in Aufruhr versetzte. Dass ich meine Meinung über ihn an einige weitergegeben habe, war vermutlich ebenfalls unreif. Bis heute frage ich mich, welche meiner dunklen Seiten er spiegelt.
Auf der Haben-Seite ist deutlich mehr. Seit ich mich bewusst in Dankbarkeit übe für alles Wertvolle in meinem Leben, fällt es mir auch deutlicher auf. Die wichtigsten Faktoren nach der Gesundheit sind ganz klar die Menschen in meinem Leben. Meine Kinder und Enkelkinder, meine Mutter und meine Schwestern und alle, die angeheiratet sind und mit denen mich Wertschätzung verbindet. Ganz besonders dankbar bin ich für meinen Großcousin, mit dem ich seit gut zwei Jahren in einer WG ein Häuschen bewohne. Wir hatten trotz sechs Jahren Altersunterschied schon als Kinder einen guten Draht zueinander und manchmal frage ich mich, ob wir uns in früheren Leben in den verschiedensten Konstellationen bereits kannten. In diesem Leben fühlt es sich so an, als seien wir gewissermaßen Zwillinge. Die durchschnittliche Gesprächsdauer eines durchschnittlichen Paares überschreiten wir um ein Vielfaches, die Gesprächsinhalte betreffen in maximal zehn Prozent Alltags-Organisatorisches, alles andere ist Austausch und Reflexion, die uns beide in unserer Entwicklung weiter bringt. Und wir lachen sehr, sehr oft! Was für ein Schatz!
Zu meinen Schätzen gehören aber auch meine Freundinnen und Freunde. Viele kenne ich aus meiner Schulzeit, zwei aus dem ersten Studienjahr, sieben kamen später hinzu. Einige waren ein paar Jahre lang in einer Warteschleife, andere begleiten mich konstant. In Arbeit ist die neu zu definierende Freundschaft zu meinem Ex-Mann, mit dem mich drei Kinder und drei Enkel und 34 Ehejahre verbinden. Immerhin haben wir einen Rosenkrieg vermieden und sprechen ein paar Male im Jahr länger miteinander „ohne Not“. Das ist schön.

Dankbar bin ich dafür, eine feste Arbeitsstelle zu haben, auch wenn Corona uns oft gebeutelt hat. Es gab immer etwas, was wir dazulernen konnten. Es gibt vieles, was ich „habe“, vor allem aber „bin“ ich auch – am liebsten dankbar. Für gute Entwicklungen bei meinen Kindern. Dafür, dass meine Mutter, meine Schwestern und mein Großcousin eine stabile Gesundheit haben. Dafür, dass mein Lebensgefühl eine Kehrtwende geschafft hat: Weg vom Mangeldenken. Hin zum Bewusstsein, wie wertvoll Freiheit und echte Wertschätzung sind.
Warum ist das ein großes Kapitel in meinem Jahresrückblog?
Weil Dankbarkeit eine schwierige Übung ist. Vieles scheint so selbstverständlich, alltäglich. Corona hat in meinem Umfeld Gott sei Dank niemanden mit Langzeitfolgen oder gar tödlich heimgesucht. Das Unvermögen der Bundes- und Landesregierungen, gute Schulbildung und ausreichende Digitalisierung zu gewährleisten, hat mich durchaus auf die Palme gebracht. Genauso die querdenkerischen Schwurbeleien, die vom wichtigsten Thema überhaupt abgelenkt haben: dem Klimaschutz. Ich bin froh, in einer Demokratie zu leben, aber das ständige Hin und Her hat einigen Fortschritt vermasselt. Jetzt bleibt abzuwarten, was die Ampel in Bewegung setzen kann.
Und ich bin dankbar, in Frieden zu leben. In meiner Heimat zu leben. Zusammen mit einem Freund, der aus dem Kriegsland Syrien flüchten musste, und einigen seiner Landsleute, möchte ich nächstes Jahr einen Verein vorstellen, dessen Eintrag ins Amtsregister bereits läuft. Dass ich eine Art „Helfersyndrom“ habe, dürften meine Leser bis hierhin sicher erkannt haben. Aber Hilfe zur Selbsthilfe halte ich für das Wichtigste. Denn wir entwickeln uns nur dann weiter, wenn wir Verantwortung übernehmen. Wir für uns und für alle.
Meine drei emotionalsten Momente in diesem Jahr
- Parachuting… Mein erster Fallschirmsprung, ein paar Stunden vorher noch für unmöglich gehalten, weil das Wetter nicht mitspielen wollte. Aber dann.. siehe oben. Was ich seitdem über mich weiß: Ich bin kein Angsthase. Und: Das nächste Mal trage ich eine Sturmhaube, damit die Ohren schön warm bleiben 😉
2. Der Lotse geht von Bord… Ein paar Wochen vorher hab ich nachts davon geträumt, jetzt lese ich es an einem Freitagnachmittag in der letzten Arbeitsmail der Woche: Der Chef wird ab Anfang 2022 weg sein. Den Rest des Tages fühle ich mich wie ein Zombie. Diesem Menschen verdanke ich viel, wir haben uns gut verstanden. Am nächsten Tag schaffe ich es, ihm zu schreiben, und ich bekomme eine außerordentlich wertschätzende Antwort. Na, vielleicht sehen wir uns ja auch zweimal in diesem Leben.
3. Gespräche mit meinen Töchtern. Das schreibe ich bewusst zum Schluss, weil es sehr privat ist. Aber seid sicher: Es gehört an die erste Stelle!
Und was ist geplant für 2022?
- Gesund bleiben!
- So oft wie möglich meine Kinder und Enkelkinder treffen
- So oft wie möglich Kontakt haben mit allen, die mir am Herzen liegen.
- Mich selbst und mein Erholungsbedürfnis dabei nicht vergessen.
- Einen gemeinnützigen Verein gründen.
- Alle guten Gelegenheiten beim Schopf ergreifen, die eine neue Chance für Weiterentwicklung bieten. Im Leben, in der Liebe, im Beruf.
- Glücklich sein!
