
Schwere Themen in diesem Monat. Wie fast immer Anfang des Jahres, kurz nach dem Neujahrsjubel. Meine Mutter flutet ihre Töchter mit Todesnachrichten aus ihrem Freundeskreis, Ende des Monats ist leider auch eine Verwandte dabei, die kaum älter ist als ich. Irgendwann ist es zu viel, ich schimpfe in den Familienchat: „Aufhören! Es reicht! Es ist Samstagabend und wir gucken jetzt die Waltons oder Raumschiff Enterprise oder Daktari!“ Meine Schwester pfeffert nach: “Percy Stewart!“ Ok, das waren alles diskrete Hinweise darauf, dass unsere Jugendjahre schon etwas zurückliegen. Ich schaue mir die genannten Posts nochmal an und denke, dass es schon fast zum Automatismus geworden ist, sich mit solchen Film- und Seriengeschichten von manchmal schwer erträglicher Wirklichkeit abzulenken. Escapismus. Früher wurde gelesen, wurden Schallplatten oder Hörfunkbeiträge gehört. Das Fernsehen ist ein Vergrößerungsspiegel dieses Schutzmechanismus. Natürlich gibt es weit mehr Möglichkeiten, darum geht es hier aber nicht.
Das, wovon ich nun schreibe, ist ein psychologisch und auch gesellschaftlich-philosophisch extrem weites Feld. 2022 jährt sich das Datum der Wannsee-Konferenz, auf der bürokratisch die Vernichtung von elf Millionen europäischen Juden geplant wurde, zum 80. Mal. Vor 77 Jahren wurde das größte Vernichtungslager, Auschwitz, von der Roten Armee befreit. Überall, natürlich auch im Fernsehen, wird daran erinnert. „Das gucke ich mir nicht mehr an,“ höre ich mehr als einmal. Lieber ein fiktiver Krimi, am besten „schlachtfrisch“ aus Schweden.
Beim Reinzappen in die Mediathek bleibe ich an einer Empfehlung hängen, die Erinnerungen an meinen England-Urlaub vor drei Jahren weckt: „Die Kinder von Windermere“. Ich lese, dass es um traumatisierte jüdische Kinder geht, die 1945 aus verschiedenen Vernichtungslagern nach England gebracht und dort wieder in ein weitgehend normales Leben integriert wurden. Diese Kinder hatten, wenn überhaupt, nur ein paar Jahre lang eine normale Kindheit. Was sie danach durchmachen mussten, ist unvorstellbar. Obwohl ich um all das weiß, darüber schon sehr viel von Zeitzeugen direkt erfahren und über diese Schicksale oft geweint habe, greift es mich wieder an. Ich kann es zulassen. Und ich sehe, wie auch diese märchenhaft liebliche Landschaft in Cumbria dazu beiträgt, den Kindern wieder etwas Vertrauen ins Leben zu schenken. Die authentischen Lebensgeschichten zeigten, dass es praktisch allen von ihnen gelang, dieses Vertrauen weiter auszubauen und Erfolg in allen Bereichen zu haben. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Wer über Forschungsarbeiten gelesen hat, die sich mit den Auswirkungen des zweiten Weltkrieges auf die Kinder- und Enkelgenerationen der beteiligten Länder beschäftigen, weiß, dass diese Traumata einen langen Arm haben. Auch meine Generation und die meiner Kinder hat noch etwas davon, auch wenn wir (weit) nach dem Krieg geboren wurden. Sabine Bode hat beschrieben, dass neben den Kriegstraumata, die Zivilisten aller beteiligten Staaten erlitten, bei den Deutschen die Schuld eine Komponente ist, die spät und schleppend aufgearbeitet wurde und wird. Die Folgen für die Nazi-Opfer – nicht nur, aber in der Mehrzahl Juden – haben wieder andere Ausprägungen. Ihnen allen gemeinsam sind die unauslöschlichen Spuren, die das Grauen in ihnen hinterlassen hat. Und, wie zunehmend klar wird, auch in ihren Nachfahren. Wie wir heute wissen, hat ein Großteil aller Traumatisierten durch Verdrängung versucht, dem Leben wieder eine Chance zu geben. Escapismus ist also ein zutiefst menschlicher Mechanismus, um die Seele zu schützen. Und er kann jahrzehntelang helfen, in einigen Fällen sogar ein Leben lang.
Vor vielen Jahren hatte ich das Glück, den wunderbaren Wladislaw Szpilman (ja, den „echten“ Pianisten aus Spielbergs Film) kennenzulernen. Zusammen mit seinem Sohn besuchte er Georgsmarienhütte, wo ich als Journalistin einer Lesung aus „Das wunderbare Überleben“ lauschen und beiden auch Fragen stellen durfte. Er bekannte, seine Geschichte vor seinem Sohn verschwiegen zu haben. Als dieser einige Notizen seines Vaters fand und ihn bat, darüber zu sprechen, wies der ihn zunächst ab. Der Sohn verstand, dass er den Vater aus Respekt nicht bedrängen durfte. Später aber brach Wladislaw Szpilman sein Schweigen und sagte, dass erst das Hervorholen dieser Geschichte ihn innerlich befreit habe und er verzeihen könne. Mir wurde während der Lesung schlagartig klar, dass mein Großvater vermutlich zeitweise in unmittelbarer Nähe zu ihm „gekämpft“ hatte. Als Wehrmachtssoldat war er an der Niederschlagung des Ghetto-Aufstandes von Warschau beteiligt, während Szpilman sich in unmittelbarer Nähe des Ghettos in einer Wohnung versteckt hielt.
Gut vorstellbar, welcher Gefühlsstrudel mich an diesem Abend und danach beschäftigte. Mein Vater, Sohn eines Täters und selbst Opfer seines cholerischen Vaters, bekam das handsignierte Buch Szpilmans zu Weihnachten. Es sorgte dafür, dass in unserer Familie endlich Dinge angesprochen und aufgearbeitet wurden, die jahrzehntelang Tabuthemen gewesen waren. Dafür haben wir, salopp gesagt, bereitwillig auch Heile-Welt-Serien verpasst.
Während wir hier in der westlichen Hemisphäre alte Wunden lecken und uns gegenseitig beschwören, jeglichen Anfängen unseliger Entwicklungen zu wehren – was, wie wir leider beobachten müssen, zunehmend schwerer wird – toben sich im Nahen Osten und in Afghanistan Unrechtsregimes aus, die viel näher sind als der Blick auf die Weltkarte vermuten lässt. Das hat nicht nur mit der Flüchtlingswelle zu tun.
Kaum, dass wir in der nunmehr fast vierten Generation das Entsetzen der Nazi-Zeit verarbeiten, sehen wir mit an, wie die Kinder und Jugendlichen in Syrien – vor allem in den kurdischen Gebieten – und in Afghanistan, aber auch im Jemen, in einer verheerenden Spirale von Gewalt, Hunger und Unterdrückung erdrosselt werden. Und natürlich nicht nur da. Als Deutschlehrerin für Flüchtlinge, aber auch privat als Freundin, breiten sich vor mir Geschichten aus, die denen meiner Großmütter und ihrer Kinder ähneln. Sie waren nach Jahrzehnten in der Lage, von ihren Erfahrungen, Entbehrungen, furchtbaren Ängsten zu erzählen. Das, was sie erlebt haben, kam nicht an das heran, was ich aus anderen Erfahrungsberichten weiß, aber es war trotzdem furchtbar. Erst im Nachhinein wird vielen klar, was sie da durchgestanden und überlebt haben. Dass es daneben noch so viel Verleugnung, Hass und Hetze gibt gegenüber Menschen, die das Gleiche durchmachen wie die (Groß-) Elterngenerationen der Hetzer und Verleugner, mögen Psychologen erklären. Es ist nicht Escapismus. Auch nicht irrationale Angst. Für mich ist es wahre, unverfälschte Dummheit.
Ob die tatsächlich durch Liebe geheilt werden kann? Wer immer in der Lage ist, hier eine nachvollziehbare Erklärung zu geben, ist hiermit eingeladen.
