

Fotos: copyright @ Thomas Rosleff-Sörensen
Es ist bekannt, dass man hierzulande oft einen schlechteren WLAN-Empfang hat als in der Wüste von Namibia. Aber das ist fast überall temporär, etwa wie im kurdischen Norden Syriens, wo die Menschen ihre geflüchteten Verwandten in Europa mitten in der Nacht zum Skype-Treffen bitten, weil das Internet für die nächsten eineinhalb Stunden funktionieren könnte. Oder, wem der Vergleich zu heikel ist, wie bei der Stromversorgung in deutschen Städten kurz nach dem Ende des zweiten Weltkriegs. Das Netz bricht ja gerne auch kurz nach dem Start des neuen Jahres zusammen, weil jeder jedem alles Gute wünschen möchte. Aber wenn es mitten im Jahr über vier Tage hinweg passiert, kann frau fast froh sein, zu den älteren Semestern zu gehören, die ja auch Zeiten VOR Handy, WLAN, Internet & Co. kannten und entsprechende Überlebensstrategien gelernt haben.
So selbstverständlich, ja, so notwendig wie das tägliche Brot, wirkt es plötzlich, wenn es fehlt. Ohne funktionierendes Mobilfunknetz mitten im prallen Leben und doch völlig abgeschnitten von der Welt – ist dieses Gefühl normal? Okay, so schlimm habe ich es nicht empfunden, schließlich kenne ich andere Zeiten. Aber ich konnte einige verzweifelte Mienen in jüngeren Gesichtern beobachten, die völlig irritiert und bar jeder Hoffnung auf ihre Handy-Displays starrten.
So geschehen vom 28. bis 31. Juli im Musikfestival-Kosmos, nur wenige Quadratkilometer unter freiem Himmel mitten auf dem Land. Mein Lieblings-Cousin und ich hatten uns vor der Pandemie Karten fürs Herzberg-Festival bei Fulda besorgt, wir wollten dort auch eine Freundin und deren Mann treffen und vier Tage Live-Musik, Woodstock-Feeling und ein bisschen Verrücktsein genießen. Der erste Schock kommt schon am Tag vor der Abfahrt: Die Freundin ist Corona positiv. Ihr Auto war schon voll geladen mit Camping-Gedöns, Blumengirlanden, farbenfrohen Fähnchen und verschiedenen Belustigungs-Beschleunigern, und jetzt das! „Ich werde das Auto bis nächstes Jahr nicht wieder ausladen!“ nimmt sie sich selbst feierlich das Versprechen auf einer Social Media-Plattform ab. Das bereits geplante Date auf einen Kaffee mit einem Bandmitglied von „The Magic Mumble Jumble“ will sie dagegen nur bis zum nächsten Festival drei Wochen später verschieben.
Ein paar Kilometer vor der Einfahrt aufs Festivalgelände bekommt Mama mein obligatorisches „Bin heil angekommen, liebe Grüße!“, danach sind wir erstmal mit Zeltaufbau und Dixie-Klo-Begutachtung beschäftigt. Anderthalb Kilometer vom Zelt bis zur Freak-Area, und los geht‘s mit Snapshots: Eine bunt gemusterte Ansammlung von Menschen zwischen eins und mindestens 91 (!) bewegt sich über die Wiesen, viele mit Dreadlocks und angezogen mit Tattoos, eine Unmenge junger Männer mit Haremshosen, alt und speckig oder frisch erstanden in einer der vielen Alternativ-Bedarfshops rund um die Konzertplätze. Das Wetter ist genau richtig – trocken und nicht zu heiß, nicht zu kühl – und schon bald erspäht der Cousin den „Goldmann“, der offenbar auf keinem Herzberg-Festival fehlt.


Nach etwa einer Stunde und im Neubesitz einer rotgestreiften Hippie-Hose sortiere ich meine erste Foto-Ausbeute und bin bereit zum „Abschuss“ über zwei Social-Media-Kanäle. Fehlanzeige. Ich hatte ja einigen Leuten versprochen, Fotos zu schicken. Shit. Dann eben später. Mein Cousin, ein erfahrener Festival-Besucher, bietet mir an, mich später auf dem Zeltplatz mit seinem Hotspot zu unterstützen. „Das kann schon mal passieren bei so vielen Leuten“, erklärt er schulterzuckend.
Nach dem ersten Konzert gibt es schon mehr Foto-Ausbeute. Zweiter Versuch. Neben mir flucht der Cousin, der, wie schon angedeutet, mit einem wesentlich besseren Mobilfunkpaket ausgestattet ist. Ein kurzbehoster Mittsiebziger mit undefinierbarer Hautpatina und biberartigen Zähnen mümmelt angesichts meines verwirrten Gesichtsausdrucks: „Kannze eh vergessen. BisshierimNirwana!Jeniesset!“ Ok, Nirwana bekomme ich irgendwie nicht hin, aber immerhin kann ich die Bands bis kurz vor Mitternacht genießen. Letzter Versuch im Zelt gegen halb eins. Das Display scheint wie eingefroren seit heute Mittag.
Morgens um Viertel nach fünf nach der ersten Dixie-Runde schnell der nächste Versuch. Vielleicht haben ja jetzt nicht gerade 20.000 andere dieselbe Idee. Juhuu, es klappt. In Whats App fünfzehn Anfragenvariationen von „Wo bleiben die Bilder?“ und schwupp – Netz weg!
Der Lieblingscousin mit Schlafplatz im Auto erklärt mir später beim Frühstück, dass er gegen halb vier Glück gehabt und seine diversen Freund*innen versorgt habe, dann aber auch bei ihm wieder alles abgerissen sei. Gegen Mittag erhalte ich eine SMS von ihm, auf die ich seit gestern Nachmittag warte: „Ich bin gegen acht am Couscous-Stand!“ Ich war um kurz vor acht zufällig dort vorbeigelaufen und hatte ihn getroffen. Mit anderen Gesprächsthemen im Gepäck hatten wir über die Nachricht nicht mehr gesprochen.

Ich schicke meiner Schwester mit der Gelassenheit einer Galapagos-Schildkröte eine SMS und bitte sie, Mama wegen der Netzprobleme Bescheid zu geben. Es ist Freitag, 14:35 Uhr. Am Samstagabend um 22:42 vibriert das Handy mit der Nachricht: „Klar, ich geb Bescheid. Passt auf, heute Nacht solls bei euch Gewitter geben!“ Stimmt, dabei habe ich bemerkt, dass das Zelt undicht ist…
Es gibt sie, diese Momente, in denen ich richtig sauer bin, dass ich keine Neuigkeiten abrufen oder Fotos verschicken kann. Nicht mal normales Telefonieren übers Handy ist noch möglich. In Notfällen wäre hier für alles gesorgt, zeit- und ortsnah, das beruhigt. Es ist alles so wie beim letzten Hippie-Sommer mit meinem ersten Freund und unseren Kumpels auf der Waldwiese, nur ohne Bühne, dafür aber mit Transistorradio und Dauerschleife BFBS oder „Diskoteck in WeeDeeÄRR“. Das war im letzten Jahrhundert.
Trotzdem fehlt mir das Scrollen, die Flut der bunten Bilder, die Neuigkeiten aus dem Rest der Welt. Und mir fehlen auch Nachrichten von ganz bestimmten Menschen. Mir fehlt genauso die Möglichkeit, mich selbst einzubringen mit Ideen, Beschreibungen, Antworten auf Fragen. Womit habe ich früher Zeit überbrückt, in der ich heute wie fremdgesteuert das Handy einschalte und nach neuem Input und Austausch suche?

Ich versuche, mich zurück zu erinnern. Ich habe dagesessen – oder gestanden oder gelegen, oder bin gegangen – und habe beobachtet und nachgedacht. Geräuschen gelauscht, die Umgebung angeschaut, eingeordnet, gefühlt. Ich habe mehr gelesen. Und mehr geschrieben! Mich geerdet. So selbstverständlich wie einst Astrid Lindgren, die ihre Pippi Langstrumpf sagen lässt: „Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und nichts zu tun!“
Ich gehe zum Zweitausendeins-Stand und kaufe mir einen Skandal-Roman. Weil es bequemer ist als auf der Wiese gehe ich damit ins Zelt mit den vielen alten Sofas – der Cousin und ich nennen es „Kiffer-Lounge“, weil die Luft geschwängert ist von geräuchertem Gras. Die Hektik auf den Handy-Apps ist hier überhaupt kein Thema.
Ich lege mich auf eine Couch und bin innerhalb von ein paar Minuten in meinem Roman. Der spielt auf einer einsamen Insel vor der Küste Kanadas. Eine Frau macht dort die außergewöhnliche Bekanntschaft mit einem Schwarzbären.
Ein netter Typ mit blonden Locken tippt mir auf die Schulter, lächelt süß und bietet mir `nen Keks an. Da kann ich nicht Nein sagen. Wow, ist das geil hier!

Wer nähere Beschreibungen zum Festival vermisst, dem kann geholfen werden:
https://herzberg-festival.com: Vier Tage ohne „Anschluss“…
wow!! 106Vier Tage ohne “Anschluss”…
LikeLike