Drachen zähmen

btr

„Hast du deine Ohrstöpsel dabei? Ich weiß ja nicht, wie laut du das Heavy Metal-Konzert verträgst.“ Mein Großcousin und liebster Mitbewohner, Pseudonym Christian, guckt süffisant lächelnd von der Fahrerseite herüber und taxiert meine Gesichtsmuskeln. „Ha! Fahren wir nach Wacken?“ Natürlich glaube ich ihm kein Wort. Wir fahren auf der A 565 in südwestlicher Richtung.

Nicht erst seit Putins fatalem „Einfall“ am 24. Februar hatte ich ein seelisches Tief, das sich durch eine mittelschwere persönliche Krise noch verschlimmert hatte. Am schlimmsten war die Aussicht auf den nächsten runden Geburtstag gewesen. Als Konsequenz trug mir der Lieblingscousin auf, an meinem Geburtstag frei zu nehmen und auf alles gefasst zu sein

6 Wochen später saß ich also gefasst auf dem Beifahrersitz seines Autos, Köfferchen und diverse Kartons im Fond, und rätselte über das Ziel der Reise.

Erste Etappe: Einkehr bei einer alten Schulfreundin, nennen wir sie Swaantje, die mittlerweile auch mit Christian befreundet ist. Sie läuft uns mit prickelnd vollen Sektgläsern entgegen. „Alles noch alkoholfrei,“ zwitschert sie fröhlich, „später auf dem Schiff können wir richtig loslegen!“ Und schiebt nach: „Warst du schon mal auf den Malediven? Mit dem Traumschiff? Sascha Hehn kommt auch!“ Ich muss schlucken. Kreuzfahrten sind nun echt nicht mein Ding. Und Sascha Hehn hab ich vor 40 Jahren sexy gefunden. Mittlerweile hab ich ein anderes Beuteschema. Swaantje lacht schallend: „Ätsch, ich wusste, dass du das nicht willst. Wir fliegen nach Wien, Schätzelein,“ und Christian ergänzt: „Da haben wir heute Nachmittag nämlich eine Führung über den Zentralfriedhof gebucht. Wir dachten, das kommt unserem Alter am nächsten…“

Endlich zwei Menschen, die mit mir fühlen. Auf dem Weg zum Flughafen – wir fahren jetzt in Swaantjes Auto mit Hündchen Lulu auf dem Rücksitz – fällt uns ein, dass wir ja noch an diesem Wochenende einen Trapez-Workshop beim Circus Roncalli hätten buchen können… Und dass wir im Herbst noch die Möglichkeit hätten, als Erntehelfer bei der Lakritzernte einzusteigen. „Wenn wir Pech haben, haben wir dann aber Monsun, wenn wir ankommen,“ gibt Christian zu bedenken.

Swaantje fährt an der Ausfahrt zum Flughafen vorbei. Lulu furzt. Da ich vorne sitzen darf, hängt Christian, der neben ihr sitzt, die Nase aus dem Fenster. Für den heutigen Nachmittag ist ein Unwetter angesagt, das wir jetzt elegant umfahren. Es geht über die nächste Landesgrenze. Wer Swaantje und ihre Familie kennt, weiß, dass nur hier der Regen Dröpje voor Dröpje Kwaliteit hat. Ich kann mein Glück kaum fassen, dass die beiden mir tatsächlich diese Reise zum Geschenk machen. Keine Erwartung, erst recht kein Wunsch steckt dahinter, meinen Geburtstag hätte ich am liebsten vergessen und mich irgendwo hinter dem Ofen in der Asche meiner Drachen und Dämonen versteckt.

Mein Handy bleibt aus während die Landschaft an uns vorbeifliegt. Es ist 14:00 Uhr, als wir hinterm Deich von Callantsoog die Flasche mit dem „echten“ Sekt aufmachen und über die Holztreppe zum Strand laufen. Wir finden eine Schaukel und wechseln uns mit kindlichem Eifer ab. Es beginnt zu regnen, der Wind frischt auf. Jetzt ist es Zeit, das Chalet zu beziehen, das Swaantjes Schwester uns überlassen hat. Ich werde sofort ins „Geburtstagszimmer“ – das mit dem bequemsten Bett – geschickt, damit ich nicht vergesse, warum ich hier bin.

Als der Wind sich legt, kaufen wir ein, drehen eine Runde durchs Örtchen und entdecken die Ankündigung für das Drachenfest am Strand, das ab morgen starten soll. Der Abend klingt mit anbetungswürdigen Häppchen und edlen Gesöffen aus. Mit der neuen Zahl vor der Null habe ich die Hälfte meines Lebens definitiv hinter mir und bin niemandem mehr Rechenschaft schuldig.

Und auch als der Geburtstag vorbei ist, darf ich keinen Finger rühren. Wir gehen zum Drachenfest, bei dem es fantastische Tierwesen am Himmel zu sehen gibt, vor dem satten Blau fast als wäre man unter der Meeresoberfläche. Es ist lausig kalt, deshalb laufen wir kilometerweit, gönnen uns (endlich auf meine Kosten) ein tolles Abendessen im angesagtesten Strandpavillon und sitzen später bei Kerzenlicht bis in die Nacht und verraten uns gegenseitig all die Träume, die wir noch haben. Die wichtigsten, Sonnenschein und Wärme, erfüllen sich bereits am nächsten Tag. Wir haben nur noch diesen einen, dehnen ihn aber so lange aus, wie es geht, und genießen unser Glück.

Auf dem Rückweg schaue ich mir noch einmal an, wer an meinem Geburtstag an mich gedacht hat. Auf dem Handy sind in verschiedenen Apps mehr als 50 Nachrichten, beinahe alle sind Gratulationen. Das Grauen vor diesem Geburtstag ist verflogen wie der Tag selbst. Und die beiden Tage danach.

Dennoch war dies kein Ergebnis der eilenden Zeit. Hier hat sich einmal mehr der größte Schatz gezeigt, der ein Leben prägen kann: tief empfundene, lang anhaltende Freundschaft. Gepaart mit Humor, Lebensfreude und Dankbarkeit ist ein solches Band kaum zu zerreissen. Nur mit Freunden, die einen ein Leben lang kennen und auch nach Jahren der Funkstille die skurrilsten Absurditäten verzeihen und einfach weitermachen, kann man Drachen zähmen.

Es sind dies nicht nur Christian und Swaantje. Sie stehen stellvertretend für einige andere, mit denen ich teils schon im Kindergarten Dreck gegessen habe. Ihr wisst, dass ihr gemeint seid. Ihr habt alle an meinem Geburtstag an mich gedacht, und das war – ebenso wie die Liebe meiner Familie – der Todesstoß für meine Dämonen.

Ich hätte da noch ein Lichtschwert gegen eure 😉

3 Kommentare zu „Drachen zähmen“

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